Anlaufstelle Süd (Halle), 31.05.2005
Nach lebensgefährlichem Angriff auf alternativen Jugendlichen im Sommer 2003 stellt das Amtsgericht Halberstadt das Verfahren gegen den Haupttäter ein – Opfer spricht von „Freibrief für die Täter“ – Nebenklage kündigt Verfassungsbeschwerde an
Die Staatsanwaltschaft Halberstadt will einen der mutmaßlichen Haupttäter bei dem schweren Angriff auf das soziokulturelle Zentrum ZORA e.V. im August 2003 in Halberstadt nicht weiter verfolgen. Auf Antrag der Staatsanwaltschaft hat das Amtsgericht Halberstadt Ende März 2005 das Ermittlungsverfahren gegen Peter Karich, Sänger der Neonaziband „Skinheads Sachsen-Anhalt (SSA)“ und einen weiteren Rechten eingestellt. „Ein solcher Umgang der Justiz mit rechten Straftaten kann von Neonazis nur als Freibrief verstanden werden, weiter offensiv und mit Gewalt gegen Andersdenkende vorzugehen,“ kritisiert Sebastian V., der bei dem Angriff schwere Kopfverletzungen erlitt.
Zur Erinnerung: Eine Nacht vor dem neonazistischen „Rudolf-Hess-Aktionstag“, am 16. August 2003, überfielen ca. 15 u.a. mit Zaunlatten und Bierflaschen bewaffnete Rechte gegen drei Uhr morgens das soziokulturelle Zentrum Zora e.V in Halberstadt. Hier lief gerade ein Ska-Konzert. Der 21-jährige Konzertbesucher Sebastian V. wurde ohne Vorwarnung von mehreren Angreifern umringt und zeitgleich mit mindestens zwei Bierflaschen auf den Kopf geschlagen, woraufhin er zusammensackte. Dann traten mehrere Rechte immer wieder gezielt auf Kopf und Oberkörper des am Boden liegenden Opfers ein. Im Anschluss griffen die Rechten mit Steinen, Flaschen und Dachziegeln BesucherInnen der ZORA an, die aus dem Konzertraum strömten.
Sebastian V. erlitt u.a. mehrere tiefe Risswunden an Schädeldecke und Oberkiefer, starke Anschwellungen an beiden Augen, einen Nasenbeinbruch, beidseitige Jochbeinbrüche, ein Schädelhirntrauma und Prellungen im Brustbereich. Nur durch glückliche Umstände erblindete er nicht. Der 21Jährige musste acht Tage stationär im Krankenhaus behandelt werden. Noch mehr als eineinhalb Jahre später leidet er an den physischen und psychischen Folgen des Angriffs.
Vor dem Angriff auf Sebastian V. und die ZORA hatten etwa sechs Rechte zunächst erfolglos versucht, mit Zaunslatten, Steinen und Bierflaschen bewaffnet in das alternative Wohnprojekt „VEB Wohnfabrik“ einzudringen und dabei zwei Fensterscheiben zerstört. Dann griff die Gruppe mit den Worten „Wo willst du denn hin, du schwule Sau!“ einen zufällig vorbeigehenden 30jährigen Passanten an. Der Betroffene wurde u.a. mit Fäusten und einer Bierflasche ins Gesicht geschlagen und konnte dann flüchten. Er erlitt bei dem Angriff Schnitt- und Schürfwunden. Die Gruppe der Rechten begab sich daraufhin in die Wohnung eines Gesinnungsgenossen. Von dort aus überfiel die nunmehr etwa 15köpfige Gruppe geplant und gezielt die ZORA. Peter Karich agierte von Beginn bis zum Ende des Angriffzuges als eine treibende Kraft.
Im April letzten Jahres verurteilte das Amtsgericht Halberstadt vier der rechten Gewalttäter wegen Landfriedensbruchs und gefährlicher Körperverletzung zu Haftstrafen zwischen acht und achtzehn Monaten, die in zwei Fällen zur Bewährung ausgesetzt wurden. Nachdem der Angeklagte Peter Karich sein Aussageverweigerungsrecht wahrgenommen hatte, wurde das Verfahren gegen ihn am ersten Verhandlungstag zur gesonderten Verhandlung abgetrennt, ebenso wie gegen den zur Tatzeit 15jährigen Jugendlichen Patrick S.
Nachdem das Amtsgericht zunächst für Juni 2004 den Beginn der Verhandlung gegen den nunmehr 32jährigen Peter Karich und den mittlerweile 16-jährigen Patrick S. angekündigt hatte, stellte es nun im März 2005 auf Antrag der Staatsanwaltschaft das Verfahren wegen gefährlicher Körperverletzung und Landfriedensbruch zum Nachteil des Geschädigten Sebastian V. nach § 154 II Strafprozessordnung (StPO) ein.
Der §154 StPO sieht eine Einstellung bei „unwesentlichen Nebenstraftaten“ nur dann vor, wenn die einzelnen Handlungen keine einheitliche Tat bilden und die einzustellende Tat neben der verbleibenden nicht erheblich ins Gewicht fällt. Für die Nebenklagevertreterin von Sebastian V., Rechtsanwältin Christina Clemm, ist das Vorgehen von Staatsanwaltschaft und Amtsgericht nicht nachvollziehbar: „Eine sinnvolle strafrechtliche Beurteilung des Verhaltens von Herrn Karich ist nur bei Berücksichtigung des gesamten Tatabends möglich. Die hier vorgenommene Aufspaltung macht aus juristischer Sicht keinerlei Sinn, so dass wohl eher sachfremde Erwägungen für diese Einstellung eine Rolle gespielt haben dürften“, so Christina Clemm. Sie wird Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht eingelegen.
Für Prof. Roland Roth, Prof. Jochen Fuchs (FH Magdeburg-Stendal) und Prof. Wolf-Dieter Narr vom Komitee für Grundrechte und Demokratie haben Staatsanwaltschaft und Amtsgericht Halberstadt die Grenze zur Strafvereitelung im Amt überschritten. Sie haben heute Strafanzeige gestellt.
Sebastian V. fühlt sich von der Justiz im Stich gelassen: „Die Rechten haben mich halb tot geschlagen und ich habe nicht das Gefühl, von der Justiz ernst genommen zu werden.“ In Halberstadt sei spürbar, dass die Rechten sehr selbstbewusst und sicher agieren.
Zur Begründung der Einstellung des Verfahrens gegen Peter K., der als Sänger der überregional bekannten Neonaziband SSA eine Vorbild- und Führungsposition in der rechten Szene Halberstadts hat, erklärte das Gericht, es sei nicht zu erwarten, dass die Strafe für den Angriff auf Sebastian V. maßgeblich neben der Strafe für den vorangegangenen Angriff auf den Passanten ins Gewicht fallen würde. „Indem ein gezielter rechtsextremer Angriffszug von Staatsanwaltschaft und Amtsgericht als nicht zusammenhängend bewertet und Teile davon eingestellt werden, wird rechte Gewalt nicht nur verharmlost, sondern auch das Interesse des Opfers von den Strafverfolgern mit Füßen getreten“, kritisiert Zissi Sauermann von der Mobilen Opferberatung.