Anlaufstelle Mitte (Magdeburg), 26.02.2010
Zahlen können lediglich einen Ausschnitt des tatsächlichen Ausmaßes rechter Gewalt in Sachsen-Anhalt abbilden
Bei seiner heutigen Vorstellung der Statistik der politisch motivierten Kriminalität 2009 gab Sachsen-Anhalts Innenminister Holger Hövelmann 83 politisch rechts motivierte Gewalttaten für das Jahr 2009 und damit einen Rückgang um rund 31 Prozent bekannt. Die Mobile Opferberatung hingegen hat (in Kooperation mit der Beratungsstelle für Opfer rechter Straf- und Gewalttaten in Dessau) für das vergangene Jahr 111 politisch rechts motivierte Angriffe in Sachsen-Anhalt mit mindestens 209 direkt Betroffenen dokumentiert, darunter 96 Körperverletzungsdelikte und zwei Brandstiftungen.
Legt man die Zahl zugrunde, welche die Mobile Opferberatung etwa zur gleichen Zeit für 2008 registriert hatte (153), hat auch das Beratungsprojekt einen Rückgang rechter Gewalt von rund 27 Prozent zu verzeichnen. Durch Nachmeldungen ist die Zahl für 2008 mittlerweile auf 180 angestiegen. Erfahrungsgemäß ist auch für 2009 davon auszugehen, dass sich die von der Mobilen Opferberatung registrierten politisch rechts motivierten Angriffe noch erhöhen werden.
ERHEBLICHE ABWEICHUNG ZU DEN BISHER VOM INNENMINISTERIUM GEMELDETEN FÄLLEN
Die heute vom Innenministerium veröffentlichte Gesamtzahl politisch rechts motivierter Gewalttaten ist insofern überraschend, als dass eine erhebliche Abweichung zu den bisher bekannt gemachten Fällen besteht: In den Antworten der Landesregierung Sachsen-Anhalts auf die Kleinen Anfragen der Partei DIE LINKE hatte das Landeskriminalamt für die ersten drei Quartale 2009 lediglich 25 politisch rechts motivierte Gewalttaten gemeldet. Eine Aufschlüsselung für das gesamte Jahr 2009 liegt noch nicht vor.
In den Aufstellungen zu politisch rechts motivierter Gewaltdelikten waren beispielsweise weder der Angriff lokaler Rechter auf nichtrechte Jugendliche in einem Jugendclub in Alleringsleben (Börde) am 21. Mai 2009 zu finden – hier hatten sich die Betroffenen gegen das Abspielen rechter Musik ausgesprochen, noch der Angriff auf zwei alternative Jugendliche am 31. Juli 2009 in Halberstadt, bei dem der Täter sich den Betroffenen als einer der Führenden des „Nationalen Widerstands“ vorgestellt hatte. Auch den gezielten Überfall rechter Hooligans auf Fans des linksalternativen Roten Stern während eines Stadtligafußballspiel zwischen dem Roten Stern Halle und SG Motor Halle II am 15. August 2009 in Halle, bei dem Sprüche wie „Ihr seid Zecken!“ und „Ihr seid die neuen Juden!“ fielen suchte man wie viele weitere von der Mobilen Opferberatung registrierten und der Polizei bekannten Fälle bisher vergeblich (vgl. Drucksachen des Landtags Sachsen-Anhalt 5/2173 und 5/2335).
„Inwieweit die Sicherheitsbehörden zu einer Neubewertung dieser und etlicher weiterer von der Mobilen Opferberatung als politisch rechts motivierte Gewalttaten dokumentierte Fälle gelangt sind bleibt abzuwarten“, so eine Sprecherin der Mobilen Opferberatung. „Im Sinne der Betroffenen wünschen wir uns, dass die Sicherheitsbehören künftig zeitnah das Vorliegen einer politisch rechts motivierten Tatmotivation erkennen und melden, um eine frühstmögliche Unterstützung gewährleisten zu können.“
Neben einer zum Teil unterschiedlichen Einschätzung zur Tatmotivation ergeben sich weitere Differenzen zwischen den Zahlen des Innenministerium und der Mobilen Opferberatung dadurch, dass lediglich die Sicherheitsbehörden typische Demonstrationsdelikte von Rechten wie Landfriedensbruch und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte als politisch rechts motivierte Gewaltdelikte erfassen. Demgegenüber zählt die Mobile Opferberatung in Einzelfällen auch Nötigungen und Bedrohungen sowie Sachbeschädigungen als Gewalttaten, wenn sie mit massiven Folgen für die Betroffenen verbunden sind. In der Gesamtstatistik der Mobilen Opferberatung für das Jahr 2009 sind das knapp 12 Prozent aller Fälle. Außerdem dokumentiert das Projekt auch nicht angezeigte Fälle rechter Gewalt. 88 Prozent aller von der Mobile Opferberatung für 2009 registrierten Angriffe fallen auch nach der Definition der Sicherheitsbehörden in die Kategorie Gewaltdelikte.
NORMALISIERUNG RECHTER GEWALT UND ERSCHÜTTERTES VERTRAUEN IN DIE POLIZEI
Mögliche Gründe für den registrierten Rückgang sieht die Mobile Opferberatung in einer alarmierenden „Normalisierung“ rechter und rassistischer Angriffe, die für viele alternative Jugendliche und junge Erwachsene sowie Flüchtlinge und MigrantInnen mittlerweile oftmals zum Alltag gehören und nur noch nach massivem Gewalterleben zur Anzeige gebracht werden. Ebenso festzustellen ist ein anhaltender Mangel an Vertrauen der Betroffenen und ihres sozialen Umfelds in Polizei und Justiz, das sich ebenso im Rückgang von Anzeigen niederschlägt.
So hat beispielsweise das massiv in die Kritik geratene Verhalten von Polizeibeamten im Zusammenhang mit dem Feuertod des Asylbewerbers Oury Jalloh in einer Dessauer Polizeizelle im Januar 2005 das Ansehen der Polizei innerhalb der schwarzen Community nachhaltig beschädigt. Vorfälle wie die teilweise rechtswidrige Durchsuchung eines Telecafés in Dessau und die damit einhergehende entwürdigende Behandlung von schwarzen AktivistInnen der Initiative in Gedenken an Oury Jalloh Mitte Dezember 2009 erneuern die Vorbehalte. Ein weiterer Grund für den Rückgang könnte Einschätzungen von Betroffene und KooperationspartnerInnen zufolge die lokale Etablierung rechter Dominanzräume in einigen Regionen Sachsen-Anhalts sein mit der Konsequenz, dass diese nicht mehr täglich mit Gewalt durchgesetzt werden müssen.
ANSTIEG RECHTER GEWALT GEGEN POLITISCH AKTIVE SOWIE GEGEN MÄDCHEN UND FRAUEN
Wie in den Vorjahren richteten sich die Angriffe in mehr als der Hälfte aller von der Mobilen Opferberatung registrierten Fälle (58 Prozent) gegen alternative und nicht-rechte Jugendliche und junge Erwachsene. 23 Prozent der Angriffe waren rassistisch motiviert und richteten sich gegen MigrantInnen, Flüchtlinge, Schwarze Deutsche und ausländische Studierende.
Im Gegensatz zu den Vorjahren hat die Mobile Opferberatung vermehrt Angriffe auf Menschen registriert, die sie sich gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus positionieren und engagieren. Hier verzeichnet die Mobile Opferberatung für 2009 einen Anstieg um neun Prozent. Außerdem wurden verstärkt auch Mädchen und Frauen zum Ziel rechter und rassistischer Schläger. Der Anteil der weiblichen Betroffenen hat sich im vergangenen Jahr um acht Prozent erhöht. „Trotz des Rückgangs der Zahlen politisch rechts motivierter Gewalt gibt es keinen Grund zur Entwarnung“, resümiert eine Sprecherin der Mobilen Opferberatung.