Anlaufstelle Süd (Halle), 10.05.2012

Zahl der offiziell anerkannten Todesopfer rechter Gewalt in Sachsen-Anhalt auf sieben angestiegen – Mobile Opferberatung: Wichtiger Schritt in die richtige Richtung

Die Ende November 2011 im Zusammenhang mit dem Bekanntwerden der rassistischen Mordserie des „Nationalsozialistischen Untergrunds“ von Innenminister Holger Stahlknecht initiierte Überprüfung von neun Tötungsverbrechen auf einen politisch rechten Hintergrund ist abgeschlossen. Heute erstattete er dem Innenausschuss des Landtags von Sachsen-Anhalt einen Bericht über die Ergebnisse. So erkennen die sachsen-anhaltischen Behörden nunmehr sieben von insgesamt zwölf vom Tagesspiegel und der ZEIT dokumentierten, politisch rechts motivierten Tötungsverbrechen sowie einen weiteren Verdachtsfall als solche an.

Anerkennung der Tatmotivation wichtig für Angehörige

„Die Neubewertung dreier Tötungsverbrechen als politisch rechts motiviert durch die sachsen-anhaltischen Behörden ist ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung“, sagt eine Sprecherin der Mobilen Opferberatung. „Aus der Praxis wissen wir, wie wichtig für die Betroffenen bzw. deren Angehörigen die Anerkennung der rassistischen oder rechten Tatmotivation ist“, so die Sprecherin weiter. „Diese Anerkennung hätten wir uns allerdings auch für die weiteren sechs Fälle tödlicher rechter Gewalt gewünscht, die ebenfalls durch das Innen- und Justizministerium geprüft wurden. Denn auch in diesen Fällen liegen eindeutige Hinweise vor, dass es sich um politisch rechts motivierte Tötungsdelikte handelt“, so die Sprecherin weiter. So habe es laut heutigem Bericht des Tagesspiegels einen Streit zwischen Justiz- und Innenministerium gegeben, welcher die Anerkennung von zwei weiteren Todesopfern verhinderte.

Alle drei nunmehr als politisch rechts motiviert eingestuften Gewaltverbrechen wurden bereits in den 1990er Jahren verübt: Am 24. April 1993 wurde der 23-jährige Matthias Lüders bei einem Angriff von 40 bis 50 Naziskins auf eine Diskothek in Obhausen (Saalekreis) tödlich verletzt. Er starb zwei Tage später an seinen schweren Kopfverletzungen. Am 8. Oktober 1999 wurde der geistig behinderte Hans-Werner Gärtner in Löbejün (Saalekreis) von drei Rechten zu Tode gequält. Am 29. Dezember 1999 schlugen und traten drei Rechte, darunter ein bekennender Neonazi, in einem S-Bahn-Tunnel in Halle-Neustadt auf den 38-jährigen, geistig behinderten Jörg Danek ein. Er erlag am nächsten Tag seinen schweren Verletzungen. Die Anerkennung von zwei Tötungsdelikten gegen Menschen mit Behinderungen als politisch recht motiviert verweist auch auf eine Opfergruppe rechter Gewalt, die von der Öffentlichkeit weitgehend nicht zur Kenntnis genommen wird. „Wir befürchten, dass die Dunkelziffer bei rechten Gewalttaten gegen Menschen mit Behinderungen wesentlich größer ist“.

Aktuelle Fälle rechter Gewalt mit lebensgefährlichem Ausmaß

Während Innen- und Justizministerium die Altfälle überprüft haben, stieg die Anzahl rechter Gewalttaten und die Brutalität der Täter erneut in einem lebensgefährlichen Ausmaß. „Es ist nur der Gegenwehr der Betroffenen und dem beherzten Eingreifen eines Zeugen zu verdanken, dass der brutale Angriff von mehreren Neonazis auf zwei palästinensische bzw. kurdische Familien aus Syrien am 29. April 2012 in Eisleben nicht tödlich endete“, so die Sprecherin weiter. „Völlig unverständlich ist in diesem Zusammenhang die Entscheidung der Staatsanwaltschaft, keine Haftbefehle gegen die Beschuldigten zu beantragen“, kritisiert die Mobile Opferberatung. „Die Täter müssen sich dadurch in ihren Handlungen bestätigt fühlen, währen die Opfer befürchten, jederzeit wieder angegriffen zu werden.“

Zudem wurde erst Ende letzter Woche bekannt, dass die Staatsanwaltschaft Magdeburg im Zusammenhang mit dem Brandanschlag auf ein von einer deutsch-polnischen Familie bewohntes Haus in der Nacht vom 19. auf den 20. Januar 2012 in Flechtingen-Behnsdorf (Börde) in ihrer Anklage von einer rassistischen Tatmotivation ausgeht. So hatten weder das Polizeirevier Börde noch die Polizeidirektion Nord in ihren Pressemitteilungen kurz nach der Tat auf ein entsprechendes Motiv hingewiesen, obwohl der Beschuldigte u.a. auf ein vor dem Wohnhaus parkendes Auto ein Hakenkreuz eingeritzt hatte. Der am vergangenen Montag am Landgericht Magdeburg eröffnete Prozess gegen den 21-jährigen Angeklagten endete gestern mit einer Verurteilung zu einer vierjährigen Haftstrafe wegen versuchten Mordes, schwerer Brandstiftung und Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen. „Dass das Gericht eine rassistische Tatmotivation und damit einen niederen Beweggrund nicht feststellen wollte zeigt einmal mehr, dass sich die Gerichte auch weiterhin scheuen, rassistische Taten als solche zu benennen, wenn sie nicht aus der organisierten rechten Szene kommen“, kritisiert die Sprecherin. Demgegenüber geht die Mobile Opferberatung davon aus, dass der im Prozessverlauf deutlich zu Tage getretene Alltagsrassismus des Angeklagten, der vor Gericht unhinterfragt blieb, Motiv für den lebensgefährlichen Angriff war.