Multikulturelles Zentrum Dessau e.V, 10.06.2020

Vor 20 Jahren wurde der Freund, Kollege, Ehemann und Vater Alberto Adriano im Dessauer Stadtpark von drei Jugendlichen und jungen Erwachsenen aus der ostdeutschen Naziszene ermordet, die sich zuvor zufällig am Bahnhof getroffen hatten. Dieser Jahrestag ist für uns Anlass, die Perspektive auf seine Geschichte und seinen Hintergrund, auf die Geschichte und Erfahrungen von sogenannten Vertrags*arbeiterinnen zu lenken, auf eine Auseinandersetzung mit rechter Gewalt und Ideologie, die vom Blick der und auf die Betroffenen rechter Gewalt ausgeht. Denn nicht nur ist die (Gesellschafts-)Geschichte der DDR in der Forschung und der Öffentlichkeit marginalisiert, noch stärker gilt das für die „Migrationsgeschichte Ost“, für die Beschäftigung mit migrantischem Leben in der DDR, in der Wendezeit und danach. Zu oft ist die Auseinandersetzung mit Rassismus zudem eine Auseinandersetzung mit den Rassist*innen, die Auseinandersetzung mit rechten Morden eine Auseinandersetzung mit den Täter*innen. In Erinnerung an Alberto Adriano und alle anderen Opfer rechter Gewalt organisieren wir, das Multikulturelle Zentrum Dessau e.V., eine der ersten Migrant*innenorganisationen Ostdeutschlands, daher am #tagdererinnerung unter der Überschrift #warumadriano folgende Aktionen und Aktivitäten:

Erinnerungsseite und Audiofeature

Zum 11.06. wird unter www.warumadriano.de eine Erinnerungsseite veröffentlicht, auf der ein für diesen Tag von uns produziertes Audiofeature mit Zeitzeug*innen, Wissenschaftler*innen, zivilgesellschaftlichen Akteur*innen und Betroffenen von Rassismus veröffentlicht wird. In diesem wird es mit Blick auf Alberto Adriano nicht nur um die Situation von Vertragsarbeiter*innen in den 1980er und 1990er Jahren gehen. Es wird zudem grundsätzlich um rechte Gewalt und den gesellschaftlichen Umgang mit dieser, mit rechten und rechtsterroristischen Morden und der die Taten motivierenden rassistischen und antisemitischen Ideologie gehen. Vor allem wird es aber um die Erinnerung an die Opfer gehen, um die Stimmen der Betroffenen und Opferperspektiven. Diese sind zugleich die Perspektive der Angehörigen der Opfer des NSU wie derjenigen, die jeden Tag von verbaler und „leichter“ physischer rassistischer Gewalt betroffen sind. Vieles davon ist ein bedrückender „Alltag“, der in keiner polizeilichen Statistik auftaucht, weder angezeigt noch in den Medien berichtet wird, der jedoch beim Zusammentreffen letztlich zufälliger Umstände jederzeit und überall eine tödliche Dimension entwickeln kann.

Webinar

Im Webinar „Einer war Alberto Adriano – Erfahrungen (ehemaliger) Vertragsarbeiter*innen in der DDR und der ostdeutschen Umbruchsgesellschaft“ am Do, 11.06.2020 von 13.30 Uhr bis 15.30 Uhr [hier] wollen wir die Situation von sogenannten Vertragsarbeiter*innen vor und nach der Wende und die Frage rassistischer Kontinuitäten thematisieren. In einem Input-Vortrag wird Dr. Carsta Langner (Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte der Universität Jena) verschiedene Schlaglichter auf das Thema werfen. So wird es einerseits um die rechtliche und politische Situation von Vertragsarbeiter*innen gehen, das heißt staatliche Vorgaben, Regelungen und Maßnahmen. Andererseits wird es aber auch um die „Eigensinnigkeit“ ihres Lebens geben, d.h. nicht geplante und nicht planbare Aspekte von Liebe, Schwangerschaft, binationalen Ehen ebenso wie Konflikte oder Kämpfe an den Arbeitsplätzen. Schließlich wird sie an Fallbeispielen auf die Frage nach rassistischer Diskriminierung und rassistischer Gewalt in der DDR eingehen. Claudia Pawlowitsch und Nick Wetschel (beide Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde) werden in einem Kommentar im Anschluss auf die chaotische Nachwendesituation mit ihren bürokratischen, rechtlichen und biographischen Brüchen eingehen und dabei Beispiele aus Sachsen einbringen. Schließlich wird der Zeitzeuge Ibraimo Alberto, der als mosambikanischer Vertragsarbeiter in Berlin (Ost) und Schwedt (Oder) arbeitete und nach der Wende für die Rechte und den Schutz von Migrant*innen kämpfte, seine persönliche Perspektive auf das Thema beisteuern.

Gedenken in Dessau und an anderen Orten in Sachsen-Anhalt

An den Tatorten der rechten Angriffe auf und Morde an Alberto Adriano im Stadtpark (14.00 Uhr) und Hans-Joachim Sbrzesny – dem bis heute nicht anerkannten Opfer neonazistischer Gewalt – am Hauptbahnhof (15.00 Uhr) wird es ein stilles Gedenken von Vertreter*innen von Zivilgesellschaft und demokratischen Parteien geben. Neben Vertreter*innen des Multikulturellen Zentrums und der hiesigen Beratungsstelle für Opfer rechter Gewalttaten sowie anderer zivilgesellschaftlicher Vereine und Institutionen werden Staatssekretärin Susi Möbbeck, MdB Karamba Diaby sowie Kommunal- und Landespolitiker*innen anwesend sein. Die Zahl ist an den Erinnerungsorten auf zehn bzw. fünf Personen begrenzt. Wir rufen aber alle dazu auf, den Tag über selbständig und unter Einhaltung der Abstands- und Hygieneregeln im Stadtpark und am Hauptbahnhof Blumen niederzulegen.
Auch an den 13 anderen bekannten Tatorten rechter Morde wird es am Vormittag des 11. Juni Blumenniederlegungen geben, d.h. in Burg, Magdeburg, Halberstadt, Quedlinburg, Löbejün, Halle, Milzau, Obhausen und Naumburg. An all diesen Orten haben uns engagierte Einzelpersonen aus der Zivilgesellschaft angekündigt, parallel zu gedenken – an Torsten Lamprecht, Matthias Lüders, Eberhart Tennstedt, Frank Böttcher, Hans-Werner Gärtner, Jörg Danek, Helmut Sackers, Alberto Adriano, Willi Worg, Andreas Oertel, Martin Görges und Rick Langenstein. Wir rufen dazu auf, in diesen Orten individuell Blumen niederzulegen und zu gedenken. Fotos davon können gerne an erinnern@warumadriano.de gesendet werden.

Um 18 Uhr wird es eine Gedenkveranstaltung vor der Polizeiwache geben, die von der Initiative in Gedenken an Oury Jalloh organisiert wird.

Sonderberichterstattung im Radio

Den gesamten Tag wird es eine Sonderberichterstattung zum „Tag der Erinnerung“ geben, d.h. im Morgen-, Mittags- und Abendmagazin jeweils zwischen 07:00 Uhr und 10.10 Uhr, 13.00 Uhr und 15.00 Uhr bzw. 18.00 und 19.00 Uhr – ein Programm in Kooperation zwischen dem Multikulturellen Zentrum Dessau e.V. und der Tagesaktuellen Redaktion von Radio Corax.
Der Sender ist im Großraum Halle, im nördlichen Saalekreis und in Teilen von Anhalt-Bitterfeld auf der Frequenz 95,9 UKW zu empfangen sowie über den Livestream [klick]. Die Sonderberichterstattung wird auch von den Freien Radios in Berlin (88,4 UKW) und Potsdam (90,7 UKW) übernommen und ausgestrahlt.
Das Feature wird um 13 Uhr ausgestrahlt.

Erinnerungsseite und hashtags zum #tagdererinnerung

Zusammenkommen werden diese Aktionen, Aktivitäten und Inhalte schließlich auf einem Blog zum Tag der Erinnerung, unter der Adresse www.warumadriano.de. Eine „wachsende“ Fotowand wird Momentaufnahmen der Gedenkaktionen und Blumenniederlegungen in ganz Sachsen-Anhalt festhalten.

Interviews, Bilder und Berichte werden von uns und unseren Partnern von der Amadeu Antonio Stiftung auch live unter dem Hashtag #warumadriano und unter www.twitter.com/warumadriano getwittert. Fotos von Gedenkaktionen und Blumenniederlegungen im öffentlichen Raum in Sachsen-Anhalt oder anderswo in Deutschland können zudem unter den hashtags #warumadriano und  #tagdererinnerung getwittert werden oder an erinnern@warumadriano.de gesendet werden und werden auf der Seite eingebunden.

Nicht nur, sondern auch am 11. Juni gilt es, der Opfer zu gedenken, die Täter und ihre Motivation zu benennen, und auf die Notwendigkeit stärkerer und grundsätzlicherer Anstrengungen in der Auseinandersetzung mit Rassismus und Antisemitismus überall in der Gesellschaft hinzuweisen. So wie jeden anderen Tag.