Mobile Opferberatung (Salzwedel, Magdeburg, Halle), 15.04.2021




Mobile Opferberatung registriert Anstieg rechter Gewalt in Sachsen-Anhalt
Zentrale Motive bei 155 rechten Gewalttaten bis hin zu versuchtem Mord: Rassismus und Hass auf politische Gegner*innen
„Coronaleugner*innenbewegung wirkt als Katalysator für antisemitische Verschwörungsideologien, Shoa-Relativierung und rechte Gewalt

155 politisch rechts motivierte Gewalttaten mit mindestens 219 direkt Betroffenen hat die Mobile Opferberatung in Kooperation mit der Beratungsstelle für Opfer rechter Gewalttaten Region Anhalt/Bitterfeld/Wittenberg für das Jahr 2020 in Sachsen-Anhalt registriert. Darunter fällt auch ein versuchter rassistischer Mord an einem 21-jährigen Geflüchteten in Halle (Saale), bei dem die Strafverfolgung von Verharmlosung und Untätigkeit geprägt war. Insgesamt hat sich die Anzahl der bekannt gewordenen rechts, rassistisch und antisemitisch motivierten Angriffe im Vergleich zum Vorjahr – trotz Social Distancing während der Corona-Pandemie – sogar erhöht (2019: 153). [1]


106 Angriffe, also mehr als zwei Drittel waren – wie bereits in den Vorjahren – rassistisch motiviert. Davon waren 155 Menschen direkt betroffen, darunter auch 16 Kinder (0–13 Jahre) und 19 Jugendliche (14–17 Jahre). Zudem war mit 30 Angriffen und 48 direkt Betroffenen ein leichter Anstieg rechter Gewalt gegen politische Gegner*innen zu verzeichnen (2020: 19 Prozent; 2019: 16 Prozent). Jede vierte dieser Taten wurde im Zusammenhang mit politischen Aktionen von Coronaleugner*innen dokumentiert, nämlich 8 Angriffe mit 15 direkt Betroffenen. Daneben war ein deutlicher Anstieg bei antisemitisch motivierten Angriffen zu verzeichnen. So stand Antisemitismus mit 9 Angriffen und 10 direkt Betroffenen bei den Tatmotiven in 2020 an dritter Stelle (2019: 2 mit 52 Betroffenen, davon 51 bei dem rechtsterroristischen Anschlag von Halle).


Für 2020 wurden ein versuchter Mord, 124 Körperverletzungen, fünf Brandstiftungen und eine Freiheitsberaubung als politisch rechts motivierte Gewalt dokumentiert. Darüber hinaus wurden aufgrund der massiven psychischen und/oder sozialen Folgen für die Betroffenen 22 Nötigungen bzw. Bedrohungen sowie zwei Sachbeschädigungen in die unabhängige Statistik politisch rechts motivierter Gewalt 2020 in Sachsen-Anhalt aufgenommen. Obwohl 121 von den insgesamt von der Mobilen Opferberatung dokumentierten 155 Angriffen sowohl polizeibekannt sind als auch nach den Kriterien der Sicherheitsbehörden als Gewalttaten zählen, gab das Innenministerium Sachsen-Anhalts Ende März 2021 lediglich 85 politisch rechts motivierte Gewalttaten bekannt. [2]



Strafverfolgungsbehörden ignorieren rassistisches Motiv bei versuchter Tötung

Dass es manchmal nur glücklichen Umständen geschuldet ist, dass Betroffene entgrenzter rechter Gewalt die Angriffe überleben, und warum das anhaltende Wahrnehmungsdefizit der Behörden Teil des Problems ist, wird an einem gravierenden Fall aus 2020 besonders deutlich: Am 1. Mai wurde in Halle (Saale) ein damals 21-jähriger, palästinensisch-syrischer Geflüchteter bei einem nächtlichen Angriff dreier Jugendlicher bzw. junger Erwachsener an einer Haltestelle durch Tritte gegen den Kopf so schwer verletzt, dass er mit lebensgefährlichen Verletzungen mehrfach im Krankenhaus operiert werden musste.


Obwohl der gleichaltrige syrischer Freund des Hauptbetroffenen, der bei dem Angriff auch verletzt wurde, die Beamten über rassistische und schwulenfeindliche Beleidigungen informierte, stellte die Polizei die Tat öffentlich lediglich als „tätliche Auseinandersetzung“ zwischen Jugendgruppen dar. Auch in allen Antworten des Innenministeriums auf parlamentarische Anfragen zu politisch rechts motivierter Gewalt in Sachsen-Anhalt 2020 sucht man das versuchte Tötungsdelikt bislang vergebens. [3]

Der Betroffene leidet bis heute unter den körperlichen und psychischen Folgen der Tat. Erheblich dazu beigetragen haben aber auch Enttäuschung und Wut über schleppende und unzureichende Ermittlungen bis hin zum ungeklärten Verschwinden der Akte [4] und die anhaltende Ausblendung des rassistischen Tatmotivs. So will auch die Staatsanwaltschaft Halle in ihrer im November 2020 u.a. wegen versuchten Totschlags erhobenen Anklage keinen sogenannten niederen Beweggrund als Mordmerkmal erkennen. „Die Ermittlungen waren von Anfang an von Vorurteilen, Missachtung der Betroffenenperspektive und immer wieder auch von Desinteresse und Untätigkeit der Strafverfolgungsbehörden geprägt“, kritisiert eine Sprecherin der Mobilen Opferberatung. Der Gerichtsprozess gegen die drei Tatverdächtigen soll erst Anfang November 2021 beginnen.


Folgen der Corona-Pandemie

Die teilweise gravierenden sozialen, gesundheitlichen und ökonomischen Folgen der Corona-Pandemie seit Mitte März 2020 trafen auch in Sachsen-Anhalt oft diejenigen am härtesten, die ohnehin im Alltag diskriminiert und ausgegrenzt werden: So waren marginalisierte Gruppen wie Geflüchtete in Sammelunterkünften oder migrantische Saison- und Sexarbeiter*innen aufgrund nochmals dramatisch verschlechterter Lebens- und Arbeitsbedingungen besonders betroffen. Gleichzeitig wurden Debatten rassistisch aufgeladen. Anfeindungen gegen asiatisch gelesene Menschen oder gegen Rom*nja wie z.B. in Magdeburg nahmen zu. Hier muss – auch angesichts sehr eingeschränkter Recherchemöglichkeiten der Mobilen Opferberatung durch die Pandemie – von einer hohen Dunkelziffer bei den Gewalttaten ausgegangen werden.

Sehr besorgniserregend in 2020 waren zudem die massive Verbreitung antisemitischer Verschwörungsmythen und Verharmlosungen der Shoa durch eine zunehmend erstarkende Coronaleugner*innenbewegung, verbunden mit immer aggressiverem Auftreten gegen Kritiker*innen und Journalist*innen. Diese Szene war laut der Arbeitsstelle Rechtsextremismus in Sachsen-Anhalt von Anfang an von extrem Rechten jeglicher Couleur dominiert und u.a. mit knapp 600 Versammlungen von Ende März bis Ende Dezember 2020 insbesondere in Halle und Magdeburg, aber auch in anderen Städten, omnipräsent.


Dabei trat sowohl bei Aktionen vor Ort als auch online eine erhebliche Gewaltbereitschaft zu Tage: Neben ungezählten Beleidigungen, Einschüchterungsversuchen und Bedrohungen zeigte sich dies auch in körperlicher Gewalt. So registrierte die Mobile Opferberatung für das Jahr 2020 sechs versuchte bzw. vollendete Körperverletzungen sowie zwei massive Bedrohungen mit insgesamt 15 direkt Betroffenen im Zusammenhang mit Protesten gegen Aktionen der Corona-Leugner*innen. Dabei richteten sich alle Angriffe gegen tatsächliche oder vermeintliche politische Gegner*innen, weil die Betroffenen entweder gegen die verschwörungsideologischen und antidemokratischen Inhalte protestierten oder als Journalist*innen und Beobachter*innen vor Ort waren. Auch hier ist die Strafverfolgung durch die Staatsanwaltschaft Halle von Desinteresse und Verfahrenseinstellungen gegen bekannte Tatverdächtige geprägt.


„Die Coronaleugner*innenbewegung in Sachsen-Anhalt wirkt als Katalysator für antisemitische Verschwörungsideologien, Shoa-Relativierung, antidemokratische Bestrebungen und rechte Gewalt“, fasst eine Sprecherin der Mobilen Opferberatung zusammen. „Deshalb ist es umso wichtiger, dass solche Aktivitäten weder unwidersprochen bleiben noch verharmlost werden; dass Protestierende, kritische Beobachter*innen und Journalist*innen von der Polizei effektiv geschützt und polizeiliche, versammlungsrechtliche sowie strafrechtliche Möglichkeiten ausgeschöpft und durchgesetzt werden“, fordert die Sprecherin auch angesichts der u.a. vom Bündnis „Halle gegen Rechts“ und weiteren Aktiven kontinuierlich geäußerten Kritik am behördlichen Umgang im Zusammenhang mit Versammlungen von Coronaleugner*innen. [5]


Regionale Verteilung

Mit 44 politisch rechts motivierten Gewalttaten in 2020 stand die Stadt Halle (Saale) sowohl in den absoluten Zahlen als auch gemessen an der Einwohner*innenzahl weiterhin an oberster Stelle (2019: 46), allerdings dicht gefolgt von Magdeburg. Hier war mit 40 Angriffen in 2020 ein deutlicher Anstieg im Vergleich zum Vorjahr zu verzeichnen (2019: 28). Zudem wurden 11 Angriffe für den Landkreis Anhalt-Bitterfeld registriert. Weitere Schwerpunktregionen waren der Landkreis Börde und der Saalekreis mit 9 politisch rechts motivierten Angriffen und der Landkreis Harz mit 8. Gefolgt vom Altmarkkreis Salzwedel und Dessau-Roßlau mit jeweils 6, Stendal mit 5, dem Burgenlandkreis, Jerichower Land, Mansfeld-Südharz und Wittenberg mit jeweils 4 und dem Salzlandkreis mit einer rassistisch motivierten Gewalttat.


Fazit

„Das Ausmaß rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Sachsen-Anhalt ist – im Jahr nach dem rechtsterroristischen Anschlag vom 9. Oktober 2019 in Halle (Saale) – nach wie vor dramatisch“, resümiert eine Sprecherin der Mobilen Opferberatung. Auch in 2020 wurden mindestens aller zwei bis drei Tage Menschen angegriffen und zum Teil erheblich verletzt, weil sie von den Täter*innen als nicht zugehörig, minderwertig oder als politische Gegner*innen angesehen wurden.


Damit einher geht die Angst potenziell Betroffener, jederzeit selbst zum Ziel rassistischer, antisemitischer, LSBTIQ-feindlicher und rechter Gewalt zu werden. Ohnmacht, Trauer und Wut nach den Mordanschlägen von Halle 2019 und Hanau 2020 – auch angesichts nicht eingelöster Versprechungen aus Politik, Verharmlosung und Untätigkeit von Strafverfolgungsbehörden oder der zunehmenden Gefahren durch die Coronaleugner*innenbewegung sitzen tief. „Die Perspektiven und Forderungen von Betroffenen rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt ernst zu nehmen und umzusetzen bleibt eine zentrale Aufgabe auf allen politischen und gesellschaftlichen Ebenen“, konstatiert die Sprecherin.


In unserem Hintergrundpapier zur Jahresstatistik 2020 finden sich weitere Details, Analysen, Beispielfälle und Grafiken.

Über uns:
Die Mobile Opferberatung als spezialisierte Fachberatungsstelle für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Trägerschaft von Miteinander – Netzwerk für Demokratie und Weltoffenheit in Sachsen-Anhalt e.V. blickt im August 2021 auf ihr 20-jähriges Bestehen zurück. Ihre Arbeit wird aktuell über das Bundesprogramm „Demokratie leben!“ sowie das Ministerium für Arbeit, Soziales und Integration des Landes Sachsen-Anhalt finanziert.


Die Einordnung von Angriffen in unsere jährlichen Statistiken als politisch rechts motiviert erfolgt anhand gemeinsamer Qualitätskriterien des Verbands der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt e.V. (VBRG), die sich für eine Vergleichbarkeit auch an der Definition des Bundeskriminalamts zu „Politisch motivierter Kriminalität – rechts“ orientieren.

Fußnoten:

1 Zur Veröffentlichung der Jahresstatistik für 2019 Anfang April 2020 hatte die Mobile Opferberatung 133 rechte Gewalttaten dokumentiert.
2 und damit ebenfalls einen Anstieg im Vergleich zum Vorjahr (2019: 74), vgl. Ministerium für Inneres und Sport, 22.03.21, PM Nr. 012/2021)
3 vgl. Antworten der Landesregierung zu den von der Polizei registrierten Gewaltstraftaten im Themenfeld „Hasskriminalität“ und PMK rechts monatlich und quartalsweise. Die endgültigen Zahlen für 2020 liegen noch nicht vor.
4 siehe dazu auch Drucksache 7/6763, 27.10.2020
5 siehe dazu u.a. Presseerklärung vom 06.07.20