Die Mobile Opferberatung hat die – bislang sehr eingeschränkte – Erfassung von Bedrohungen und Nötigungen für das Jahr 2023 aktuellen Diskursen und Entwicklungen angepasst. Damit folgt sie den bereits 2022 veränderten, bundesweit einheitlichen Kriterien des Verbands der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt (VBRG e.V.). Auf die hatten sich die Mitgliedsorganisationen nach intensiven Diskussionen geeinigt.
Ziel der veränderten Erfassung ist eine geschärfte Analyse, angepasst an die wandelnden Ausdrucksformen rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt. Nunmehr werden auch solche Fälle als Nötigungen bzw. Bedrohungen dokumentiert, die nicht mehr zwingend dem Wortlaut des Strafgesetzbuches entsprechen. Ausschlaggebend für uns ist hier, dass die Handlungen von den Betroffenen als solche empfunden werden und mit erheblichen Folgen verbunden sind.
Darüber hinaus werden jetzt auch Bedrohungen und Nötigungen laut §§ 240 bzw. 241 Strafgesetzbuch (StGB) dokumentiert, bei denen wir keine Kenntnis der Folgen für die Betroffenen haben. Dementsprechend werten wir nun Antworten auf Kleine parlamentarische Anfragen zu Nötigungen und Bedrohungen aus, die von Polizei und Staatsanwaltschaften als politisch rechts motiviert gemeldet werden und nehmen sie mit in unsere Statistik auf.
Auf diese Weise fanden 70 Bedrohungen bzw. Nötigungen aus dem Jahr 2023 ihren Weg in die entsprechende Jahresstatistik, die ohne die Änderung nicht durch die Mobile Opferberatung erfasst worden wären.
Stärkere Orientierung an Betroffenenperspektiven
Seit 2003 hatten die spezialisierten Fachberatungsstellen Nötigungen und Bedrohungen nur dann einheitlich als Angriffe dokumentiert, wenn der Straftatbestand laut StGB erfüllt war und Erkenntnisse über erhebliche Folgen vorlagen. Weil der Mobilen Opferberatung wie den meisten spezialisierten Gewaltopferberatungsstellen die Ressourcen fehlten und fehlen, auch proaktiv zu Bedrohungen und Nötigungen zu recherchieren oder Unterstützung anzubieten, war das Monitoring in der Regel auf Fälle beschränkt, wo sich Betroffene aufgrund der Folgen von sich aus gemeldet hatten. Diesen wäre kaum erklärbar gewesen, warum zum Beispiel eine versuchte einfache Körperverletzung analog der polizeilichen Erfassung als Gewalttat in die Statistik einfließt, eine Bedrohung, die von ihnen unter Umständen viel massiver als Gewalt erlebt wird, aber nicht. Dementsprechend bewegten sich die jährlich dokumentierten Nötigungen/Bedrohungen lediglich im unteren zweistelligen oder sogar einstelligen Bereich.
Mit der neuen Erfassung tritt der jahrzehntelang vertretene Anspruch der Vergleichbarkeit der Gesamtzahl der Angriffe mit der polizeilichen Statistik politisch rechts motivierter Gewalt (PMK rechts) zurück: zugunsten einer noch stärkeren Orientierung an Betroffenenperspektiven und Diskursen um Gewaltdefinitionen. Davon unbenommen können die Statistiken der spezialisierten Gewaltopferberatungen anhand der aufgeschlüsselten Straftatbestände weiterhin mit denen der Polizei verglichen werden. Es bleibt die Aufgabe des unabhängigen Monitorings der Beratungsstellen, die polizeiliche Erfassungspraxis kritisch zu hinterfragen und die Wahrnehmung zu schärfen. Eine Aufnahme von Bedrohungen und Nötigungen in den Katalog der politisch motivierten Gewaltstraftaten wäre daher zu begrüßen.
Aktuelle Definition der Fachberatungsstellen im VBRG e.V.
Nötigungen oder Bedrohungen werden von uns dann erfasst, wenn
- die Kriterien nach §§240 oder 241 Strafgesetzbuch erfüllt sind ODER
- Anfeindungen/Aggressionen/Einschüchterungen von Betroffenen aufgrund der Intensität oder Häufung als Bedrohung wahrgenommen werden und erhebliche Folgen haben.
Ob die Nötigung oder Bedrohung schriftlich, mündlich, per Geste oder als symbolischem Akt, persönlich vor Ort, telefonisch oder im Internet erfolgt, ist unerheblich.
Kriterien für erhebliche Folgen:
- starkes subjektives Bedrohungsgefühl bzw. erhebliche Verunsicherung bezüglich der eigenen Sicherheit der Betroffenen, verbunden z.B. mit Überlegungen, wegzuziehen, eine Stelle zu kündigen, der Vermeidung bestimmter Orte oder Kontakte, Einschränkung der Bewegungsfreiheit;
- beachtliche finanzielle Folgen, z.B. Aufgabe oder Verlust der Existenzgrundlage bzw. des Arbeitsplatzes, durch nötig gewordener Umzug oder finanzielle Mehrausgaben z.B. für Sicherheitseinrichtungen (Bewegungsmelder, Sicherheitsfolien oder -schlösser, Jalousien);
- erhebliche gesundheitliche Einschränkungen wie Panikattacken, Angst- und Schlafstörungen, Posttraumatische Belastungsreaktionen (PTBS), Verlust von Lebenslust und Lebensfreude.