VBRG e.V., 09.10.2020
„Echter Schutz vor Antisemitismus, Rassismus und Rechtsterrorismus statt Sonntagsreden und leere Versprechen“.
Heute vor genau einem Jahr – am 9. Oktober 2019 – starben Jana Lange und Kevin Schwarze durch die gezielten Schüsse eines antisemitisch und rassistisch motivierten Attentäters. 51 Menschen, die an Yom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag in der Synagoge von Halle versammelt waren, überlebten nur Dank ihres besonnen Handelns und der funktionsunfähigen, tödlichen Waffen des Attentäters. „Die Reaktionen des Staates auf den mörderischen Antisemitismus und Rassismus werden bislang der Zäsur nicht gerecht, die das Attentat von Halle markiert“, kritisiert der Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt.
Seit 365 Tagen sind der Schmerz und die Trauer über die Ermordung von Jana L. und Kevin S. für die Hinterbliebenen und ihre Freundinnen ebenso wie der Schmerz und die langanhaltenden traumatischen Folgen für die Überlebenden des Attentats auf die Synagoge, die überlebenden Kundinnen des Kiez Döner und die zum Teil schwer verletzten Passantinnen in Halle (Saale) und Wiedersdorf mit klaren Forderungen verbunden. Diese Forderungen müssen endlich gehört und erfüllt werden:
- Eine lückenlose Aufklärung und der internationalen White Supremacy Netzwerke des Attentäters.
- Umfassende Gerechtigkeit und Entschädigung der Hinterbliebenen sowie aller Verletzten und Überlebenden des Attentats am 9. Oktober 2020.
- Politische Konsequenzen sowohl in Sachsen-Anhalt als auch bundesweit – insbesondere in Bezug auf den Schutz von Betroffenen von Antisemitismus und Rassismus ebenso wie in Bezug auf den Schutz jüdischer Gemeinden, Einrichtungen und Institutionen.
- Ein angemessenes Erinnern und Gedenken im öffentlichen Raum.
- Eine intensive Untersuchung zum Handeln von Polizei und Innenministerium in Sachsen- Anhalt vor, während und nach dem Attentat.
„Der Schmerz der Überlebenden und Hinterbliebenen von Halle, der Hinterbliebenen des Attentats von Hanau und der Familie von Walter Lübcke, der Überlebenden der unzähligen rechter Gewalttaten seit 1990, ihre Traumata, ihr Verlust, ihre Ängste, ihre kaum vernarbten Verletzungen können weder durch Sonntagsreden noch durch leere Versprechen gelindert werden,“ sagt Antje Arndt von der Mobilen Opferberatung in Sachsen-Anhalt. „Vielmehr braucht es endlich ein Äquivalent zum solidarischen Handeln der Angegriffenen auch bei den staatlichen Maßnahmen.“
Das Attentat von Yom Kippur 2019 in Halle (Saale) und der Prozess gegen den Attentäter am Oberlandesgericht Naumburg haben die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Antisemitismus, Rassismus und Rechtsterrorismus verändert: Diese Veränderung ist vor allem den Überlebenden des Attentats und den Hinterbliebenen der Ermordeten zu verdanken. Sie haben durch ihre mutigen Aussagen im Prozess am Oberlandesgericht Naumburg und durch ihre solidarischen Initiativen u.a. für den Kiez Döner in Halle gezeigt, wie wichtig Solidarität mit allen Betroffenen und die vollständige Aufklärung für die Auseinandersetzung mit Rechtsterrorismus sind. So ist beispielsweise die Rekonstruktion, wie das Attentat und der Attentäter von Halle (Saale) in eine internationale White Supremacy-Bewegung eingebettet sind, nicht dem BKA sondern unabhängigen Wissenschaftlerinnen und Künstlerinnen zu verdanken.¹
Es sind die Überlebenden des Attentats von Halle (Saale), die als Nebenklägerinnen im Prozess am Oberlandesgericht Naumburg die Kontinuitätslinien der Traumatisierung durch die Schoa und des antisemitischen Terrors der Gegenwart thematisieren. Sie sprechen über ihre multiplen Identitäten als Kinder von Schoa-Überlebenden, Emigrantinnen, Feministinnen, Nachfahren von Soldaten der Roten Armee und viele weitere Merkmale, die sie zu Zielscheiben von Rechtsterroristen machen. 2 Und es sind die Überlebenden, die als Nebenkläger*innen im Prozess darüber sprechen, wie wichtig die Solidarität der von Antisemitismus und Rassismus Angegriffenen für- und untereinander ist.
Die im VBRG e.V. zusammengeschlossenen 15 Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt unterstützen die Forderungen der Hinterbliebenen und Überlebenden. Gemeinsam mit ihnen, der Mobilen Opferberatung bei Miteinander e.V., dem Bündnis Halle gegen Rechts, dem Bündnis Zivilcourage und dem Landesnetzwerk der Migrantenorganisationen in Sachsen-Anhalt und vielen anderen rufen wir zu den Gedenkaktivitäten in Halle (Saale) am 9. Oktober 2020 auf. Wir hoffen, dass sich an den Gedenk-Demonstrationen im gesamten Bundesgebiet viele
Menschen beteiligen.
Rassistisch, antisemitisch und rechtsextrem motivierter Terror hat in den vergangenen 12 Monaten dreizehn Todesopfer in Istha bei Kassel, in Halle (Saale) und Hanau gefordert. Hunderte von Menschen wurden im gleichen bei rassistisch, antisemitisch und politisch rechts motivierten Angriffen verletzt; Dutzende Imbissbetreiber, Bar-, Restaurant- und Ladenbesitzer haben durch antisemitisch, rassistisch und rechtsextrem motivierten Brandanschläge ihre Existenzgrundlage verloren. Wir fordern und erwarten, dass die Forderungen der Hinterbliebenen und Überlebenden des Attentats in Halle (Saale), die Forderungen der Hinterbliebenen und Überlebenden des Attentats von Hanau sowie der Familie von Walter Lübcke und von Ahmad I. von den politisch Verantwortlichen gehört und zu einem Wendepunkt im Umgang mit Rassismus, Antisemitismus und rechter Gewalt werden.
Dafür gehen wir in Halle (Saale) und vielen anderen Orten auf die Straßen.
¹ Global White Supremacist Terror: Halle, Rekonstruktion des Attentats durch ein internationales Kollektiv unabhängiger Künstlerinnen und Wissenschaftlerinnen, online verfügbar unter: https://halle.nsu-watch.info/