5. November 2019 in Dieskau, Sachsen-Anhalt. Während eines Radlader-Lehrgangs werden zwei syrische Geflüchtete von einem weiteren, älteren Teilnehmer rassistisch beschimpft und mit einer Schreckschusswaffe bedroht. Erst knapp drei Jahre später wird der Fall am Amtsgericht Halle verhandelt. Am Ende wird der Angeklagte freigesprochen. Wie konnte es dazu kommen?
von Lilli Neuhaus
Für die beiden Betroffenen ist es kein leichter Weg. Die Erinnerungen an die Geschehnisse von vor fast drei Jahren belasten sie bis heute. Um Mitte Oktober 2022 vor dem Amtsgericht Halle (Saale) auszusagen, sind sie aus Nordrhein-Westfalen angereist. In Sachsen-Anhalt wohnen sie und ihre Familien infolge des Angriffs schon längst nicht mehr.
In diesem Fall scheint besonders gravierend, dass die beiden ohne engagierte Nebenklagevertretung vor Gericht treten müssen. Und das, obwohl einer der Betroffenen bereits kurz nach der Tat u.a. wegen Kritik an der Arbeit der Polizei einen Rechtsanwalt bevollmächtigt und dieser frühzeitig die Absicht des Betroffenen zum Anschluss als Nebenkläger erklärt hatte. Immer wieder hatte der Anwalt später telefonisch beim Amtsgericht nachgefragt, ob bereits terminiert worden sei, und war jedes Mal vertröstet worden. Auch seine schriftliche Sachstandsanfrage blieb unbeantwortet. Von dem Gerichtstermin erfuhr der Anwalt erst zwei Tage vor der Verhandlung über seinen Mandanten. Zu spät, um den Termin noch zu realisieren.
Was war passiert?
Es ist ein kalter Tag Anfang November 2019. In Dieskau, einem kleinen Ort im Saalekreis südöstlich von Halle, findet auf dem Gelände des Motorsportvereins „MSV Dieskau“ eine praktische Radladerfahrprüfung statt. Mehrere dutzend Personen hatten an der mehrwöchigen Schulung teilgenommen. Für viele von ihnen ist es eine Maßnahme des Jobcenters, auch für die beiden syrischen Geflüchteten.
Am Mittag warten die 30- und 37-jährigen Männer auf dem Parkplatz darauf, dass sie an der Reihe sind und unterhalten sich. Plötzlich kommt ein 56-jähriger Teilnehmer der Schulung auf sie zu, schreit „Scheiß Ausländer“. Dann öffnet er die Beifahrertür seines dort parkenden Autos, holt eine Waffe aus dem Handschuhfach und zielt in ihre Richtung der beiden Männer. So steht es in dem Strafbefehl des Amtsgerichts, gegen den der Angeklagte Einspruch eingelegt hatte. Und so bestätigen es beide Betroffenen im Gerichtssaal.
„Ich hatte Angst um mein Leben.“
Der jüngere der beiden sagt als erster aus. Ihm fällt es sichtlich schwer, nochmal über das Geschehen zu sprechen. Er erzählt, wie er und sein Freund versucht hätten, verbal zu deeskalieren, als der Täter schreiend auf sie zugekommen sei. Und wie dieser plötzlich eine Pistole auf sie gerichtet habe. Daraufhin habe er demonstrativ seine Jacke geöffnet und gesagt: „Schieß doch, ich habe meine Familie in Syrien verloren!“. Seine Angst sei dabei jedoch groß gewesen: „Ich hatte Angst um mein Leben!“
Beide Betroffenen stehen damals noch unter dem Eindruck des tödlichen, rechtsterroristischen Anschlags vom 9. Oktober, nur dreieinhalb Wochen zuvor. „In Halle wurde ja gerade die Synagoge angegriffen, mit Waffen“ nimmt der damals 30-Jährige in seiner Aussage darauf Bezug. Sein sieben Jahre älterer Freund, der als zweiter Zeuge vor Gericht aussagt, benennt deutlich die körperliche Reaktion auf seine Todesangst. Erst, als der damals 56-Jährige in die Luft schießt sei den beiden klar geworden, dass es sich bei der Pistole um eine Schreckschusswaffe handelt.
Nach dem Schuss rufen die Betroffenen die Polizei. Die ankommenden Beamten nehmen dem Angeklagten die Tatwaffe und seinen Kleinen Waffenschein ab. Zwei Wochen waren beide Betroffene infolge des traumatischen Geschehens krankgeschrieben. Es sei unvorstellbar gewesen, noch einmal zu der Schulung zurückzukehren, so der jüngere Betroffene. Sein Freund spricht im Gerichtssaal von seiner Angst in der ersten Zeit nach dem Angriff, dass der Angeklagte ihnen auflauern könnte. Auch von ihrem Wegzug ist kurz die Rede. Nachfragen seitens der Staatsanwaltschaft oder des Gerichts, inwieweit dieser eine Tatfolge ist, gibt es nicht.
Rassismus im Gerichtssaal bleibt unhinterfragt
Die Einlassung des nunmehr 60-jährigen Angeklagten gleich zu Beginn der Verhandlung ist von rassistischen Zuschreibungen und Argumentationsmustern durchzogen: So nennt er die Betroffenen u.a. „Syrier“, den Älteren der beiden durchgehend „Vollbart“. Auch lässt er sich zunächst sehr ausführlich über das wahlweise „ungeduldige“„rüpelhafte“ oder „kindische“ Verhalten der beiden Betroffenen während des Lehrgangs aus. Auf sie zugegangen sei er am Tattag, weil sich einer von ihnen weiter an sein Auto angelehnt habe, obwohl er ihn mehrfach aufgefordert habe, sich zu entfernen.
Den Einsatz seiner Waffe erklärt der Angeklagte damit, dass er wegen einer angeblichen Greifbewegung eines der Betroffenen vermutet habe, dieser würde ein Messer hervorholen. Er sagt, dass man ja von den Kriminalstatistiken wisse, „dass seit 2015 die migrantische Gewalt, besonders mit Messern, enorm gestiegen“ sei. Vor der Abgabe des Schusses habe er den beiden noch erklärt, dass sie sich „als Gäste in Deutschland an Recht und Gesetz zu halten haben“. Er sieht unauffällig aus und ist bisher nicht polizeilich in Erscheinung getreten. Sein Verteidiger, Rechtsanwalt Metzner aus Dresden, hebt später das freiwillige Engagement seines Mandanten hervor. Dieser unterstütze „Ukrainer, Russen, alles was so anfällt“.
Als weitere Zeugen werden ein Teilnehmer der Radlader-Schulung und ein Platzwart vom „MSV Dieskau“ gehört, beide ebenfalls weißdeutsch. Einer der beiden erscheint trotz Ladung zum ersten erst am zweiten Verhandlungstag einige Wochen später. Auf die Frage des Richters, woher er von diesem Termin wisse, meint der Zeuge, dass der Angeklagte ihm Bescheid gegeben habe. Er beteuert, dass er diesen jedoch nicht näher, sondern nur vom Radlader-Lehrgang kenne.
Beide Zeugen berichten, dass sie den Vorfall aus einiger Entfernung mitbekommen hätten. Eine rassistische Beleidigung vonseiten des Angeklagten will keiner von ihnen gehört haben. Dass geschossen wurde, können sie aber bestätigen. Auch bei diesen beiden werden rassistische Ressentiments gegenüber den beiden Betroffenen deutlich. So beschwert sich der zweite Zeuge in rassistischem Affekt über die Männer. Diese hätten „ständig yalla yalla“ gesagt und hauptsächlich „rumgemeckert“. Und er zeigt Verständnis für das Verhalten des Angeklagten: „Der wollte einfach, dass die von seinem Auto da weg…“, sagt er und zuckt mit den Achseln. Ein Problem damit, dass zwei Menschen mit einer Waffe bedroht wurden, scheinen beiden Zeugen nicht zu haben.
Im Zweifel für den Angeklagten
Obwohl beide Betroffene die rassistische Beleidigung und die Bedrohung mit der Waffe in ihren Aussagen bestätigt haben, plädiert Staatsanwalt Hübner am Ende für Prozessbeobachter*innen überraschend auf Freispruch. Die Aussagen „der beiden syrischen Staatsbürger“ seien zwar glaubhaft gewesen. Aber einige Gesichtspunkte seien durch die anderen beiden Zeugen „erschüttert worden“, deren Glaubwürdigkeit er trotz des offen zu Tage getretenen Rassismus und Verständnis für das Verhalten des Angeklagten nicht in Frage stellt.
Auf jeden Fall sei ein Schuss in die Luft abgegeben worden. Was aber genau passiert ist und ob auf die Zeugen wirklich eine Waffe gerichtet wurde, wisse er nicht: „Kann so gewesen sein, wie die Syrer gesagt haben, kann aber auch anders gewesen sein.“ Es scheine „eine gewisse Erregung bei allen Beteiligten“ da gewesen zu sein, da könne es auch zu „Missverständnissen“ gekommen sein, erklärt er weiter.
Das Gericht folgt dieser Sichtweise. Zwar spricht Richter Sarunski in seiner mündlichen Begründung für den Freispruch von seinem Bauchgefühl, welches sage, „dass es durchaus wahrscheinlich ein Geschehen wie im Strafbefehl beschrieben gegeben hat.“ Und dass die Betroffenen „vielleicht in der Situation verängstigt waren, weil sie nicht wussten, ob die Waffe echt ist“. Aber: Der juristische Nachweis fehle. „In dubio pro reo, im Zweifel für den Angeklagten.“
Als die Betroffenen erfahren, wie der Prozess ausgegangen ist, fehlen ihnen die Worte. Der Freispruch ist für sie ein Schlag ins Gesicht. Der Angriff und das, was sie drei Jahre später im Gericht erlebt haben, bestätigen ihnen ums Neue, dass der Umzug die richtige Entscheidung war.