Anlaufstelle Süd (Halle), 07.04.2009
Mobile Opferberatung dokumentiert Reaktion der Angehörigen
Mehr als einmal haben Betroffene rechter und rassistischer Gewalt in Sachsen-Anhalt die Erfahrung gemacht, dass es für sie nicht möglich ist, vor Gericht Recht zu bekommen. Wir dokumentieren an dieser Stelle den Brief eines Vaters, dessen Tochter im Dezember 2007 auf dem Weihnachtsmarkt in Halle/S. von einem 29-jährigen Rechten angegriffen wurde; er urinierte dabei auf die 17-Jährige und schlug sie ins Gesicht. Obwohl der Angeklagte aufgrund von Hinweisen mehrerer ZeugInnen kurz nach der Tat gefasst wurde, machte die Polizei schwerwiegende Fehler in der weiteren Ermittlungsarbeit. Nach vier Verhandlungstagen sprach das Amtsgericht Halle unter Vorsitz von Richter Petersen am 11. März 2009 den einschlägig vorbestraften und zum Zeitpunkt der Tat unter Bewährung stehenden Rechten vom Vorwurf der Körperverletzung in zwei Fällen frei. „Die Wahrscheinlichkeit, dass der Angeklagte der Täter ist, ist sehr hoch, mag sogar über 90% liegen … aber es reicht nicht für eine Verurteilung“, so der Richter.
esen Sie hier den offenen Brief des Vaters der Betroffenen als Reaktion auf das Urteil:
DANKSAGUNG
Danke an alle, die dem Recht zum Recht verhelfen wollten!
Zum Geschehen:
Auf dem Weihnachtsmarkt in Halle werden ein 17jähriges Mädchen und ihr Freund im Jahr 2007 aus einer Gruppe von mehreren Männern heraus mit den Worten „na ihr Punks, habt ihr kein Zuhause“ angepöbelt. Es eskaliert. Das Mädchen wird von einem der Männer anuriniert (!) und ins Gesicht geschlagen. Die herbeigerufene Polizei kann den 29-Jährigen zum Glück stellen als er auf der Flucht eine Polizistin in Zivil mit dem Schlagstock aus dem Weg räumen will. Der Mann ist einschlägig vorbestraft und gehört der rechten Szene an. Die Presse berichtete.
Danke an alle, die sich mutig im Gericht den Fragen der Juristen stellten.
Natürlich waren nicht alle Details nach über einem Jahr bei allen Beteiligten – Zivilisten sowie Polizisten – übereinstimmend. Mehrere Zeugen konnten den Angeklagten im Gerichtssaal identifizieren – jedoch nicht alle.
Der Angeklagte wurde vom Vorwurf des Anurinierens
und Schlagens des 17jährigen Mädchens
freigesprochen!
Danke an das junge Pärchen, das sich während des Prozesses auf einen Zeitungsartikel hin bei Gericht meldete. Die junge Frau war sehr nervös. Auf Nachfrage im Gericht erzählte sie, dass sie die anwesende Bekannte des Angeklagten kenne. Sie habe große Angst vor Repressalien aus dem Bekanntenkreis des Angeklagten, wenn sie ihn belastete. Sie tat es dennoch sehr mutig. Ihr Lebensgefährte ließ sich vom Angeklagten und seinem Anwalt nicht beeindrucken und erzählte dem Gericht, dass er den Angeklagten zweifelsfrei wiedererkenne Er stand bei der Tat genau daneben und rief damals die Polizei über sein Handy.
Der Angeklagte wurde vom Vorwurf des Anurinierens
und Schlagens des l7jährigen Mädchens
freigesprochen!
Danke an alle Freunde und Bekannte, die während der vier Verhandlungstage das Opfer durch ihre Anwesenheit moralisch unterstützten. Ein Wort zum Verteidiger: Jedem Angeklagten steht ein Verteidiger zu. Das ist auch gut so. Wie man die Verteidigung führt, ist nicht vorgeschrieben. Man fragt sich, wie der Verteidiger das alles mit seinem Gewissen vereinbaren kann. Vielleicht hat ein Bekannter ja recht, der neulich erzählte: „Wo nichts ist, kann sich auch nichts vereinbaren“. Ob er den Verteidiger kannte, weiß man nicht.
Danke auch an die Anwältin des als Nebenklägerin auftretenden Opfers, welche mit unglaublich engagierter Art auftrat, und an die junge Frau der Mobilen Beratung für Opfer rechter Gewalt, die dem Opfer Tag und Nacht mit Rat und Tat zur Seite stand.
Bedanken wollten wir uns an dieser Stelle auch bei Parteien und Politikern. Leider ist das nicht möglich. Unsere Politiker können gut in der Zeitung und im Fernsehen Zivilcourage vom Volk verlangen. Aber selber…!?
Niemand fand unterstützende Worte.
Niemand bezog Stellung zur Tat.
Niemand war vor bei oder nach Gericht dabei.
Niemand zeigte Interesse.
Es war einfach kein politisches Interesse vorhanden (steht etwa gerade keine Wahl bevor?). Ist unsere politische Landschaft sowie Justizia wirklich auf dem „rechten Auge“ blind? Oder gibt es das „rechte Auge“ gar nicht mehr? Sind rechte Angriffe schon normal, so dass man sie als solche nicht mehr wahrnehmen will?
Die Staatsanwaltschaft hatte es im Vorfeld nicht leicht, da hinsichtlich dieser Tat eine äußerst schlampige Polizeiarbeit zu verzeichnen ist. Darin waren sich hier alle beteiligten Juristen einig. Dennoch erwartet man von der Staatsanwaltschaft ein wesentlich engagierteres Vorgehen als es hier gezeigt wurde. Immerhin kam letztlich auch die Vertreterin der Staatsanwaltschaft zu der Überzeugung, dass der Angeklagte in allen Punkten schuldig und zu verurteilen sei. Leider war der Richter am Ende dann doch anderer Meinung.
Der Angeklagte wurde vom Vorwurf des Anurinierens
und Schlagens des 17jährigen Mädchens
freigesprochen!
Hatte der Richter Angst? Wenn ja, wovor? Weil es eben nicht nur ein Angriff, sondern ein rechter Angriff war. Und das hätte in der Urteilsbegründung ja dann stehen müssen. Oder besaß der Richter keine Wahrnehmung für rechte Gewalt? Oder reichten die vielen Zeugen wirklich nicht aus, um auf mehr als zu einer „über 90%igen Überzeugung, dass der Angeklagte der Täter ist“ (Originalton Richter) zu gelangen? Oder? Oder? Oder? – Man wird es nie erfahren.
Danke auch an die Familie. Die Eltern, Geschwister, Großeltern, Onkel und Tanten. An alle, die dem Opfer nicht nur an den Verhandlungstagen beistanden – auch an den vielen Wochen und Monaten seit der demütigenden Tat, in denen es galt, nicht nur körperliche, sondern auch seelische Schmerzen zu lindern!