Anlaufstelle Mitte (Magdeburg), 12.03.2008

„Die Polizei hat uns nach dem Angriff nicht geholfen und die Täter laufen lassen. Jetzt haben wir auch das Vertrauen in die Justiz verloren“, so das Resümee der Betroffenen nach sechs Monaten Hauptverhandlung vor dem Amtsgericht Halberstadt

Pressegespräch mit NebenklagevertreterInnen und Betroffenen, 13.3.2008, ca. 13 Uhr, Pressezimmer Landgericht Magdeburg

Am Donnerstag werden die NebenklägervertreterInnen im Prozess wegen des rechten Angriffs auf Ensemblemitglieder des Nordharzer Städtebundtheaters im Juni 2007 in Halberstadt das Ende der Beweisaufnahme beantragen. Die NebenklägerInnen und ihre AnwältInnen haben sich zu diesem Schritt entschlossen, weil nach einem halben Jahr Verhandlungsdauer am Amtsgericht Halberstadt deutlich geworden ist, „dass die Bedingungen eines rechtsstaatlichen Verfahrens nicht mehr gegeben sind,“ so Rechtsanwalt Stefan Martin als Sprecher der NebenklägervertreterInnen. „Die Polizei hat uns nach dem Angriff nicht geholfen und die Täter laufen lassen. Jetzt haben wir auch das Vertrauen in die Justiz verloren,“ lautet das Resümee der Betroffenen.

Das Verfahren gegen vier Angehörige der rechten Szene in Halberstadt im Alter von 22 bis 28 Jahren, denen die Anklage gemeinschaftliche Körperverletzung vorwirft, war von Anfang an von massiven Polizeipannen und Ermittlungsfehlern begleitet. So hatten beispielsweise in der Tatnacht Polizeibeamte trotz mehrfacher Aufforderungen der Opfer nicht die Personalien der noch vor Ort befindlichen tatbeteiligten Rechten aufgenommen. Darüber hinaus gab es vor Ort keine Einsatzkoordination der Polizei, die sowohl von den Betroffenen als auch von Unbeteiligten unmittelbar nach dem Angriff über Notruf verständigt worden war. Ein polizeiinterner Untersuchungsbericht rügt denn auch den gesamten Polizeieinsatz als „katastrophal“ und bemängelt insbesondere die Tatsache, dass es keinerlei Koordination für die vor Ort kopflos agierenden einzelnen Polizeibeamten gegeben habe.

Diese Konzeptlosigkeit hat sich dann im staatsanwaltschaftlichen Vorgehen fortgesetzt. So wurden beispielsweise gerichtsmedizinische Untersuchungen der Opfer und Angeklagten erst zehn Tage nach dem Angriff angeordnet. Nur sechs Tage nach dem Angriff präsentierte die Staatsanwaltschaft Halberstadt eine erste Anklage gegen einen der vier einschlägig vorbestraften Angehörigen der rechten Szene in Halberstadt. Dabei stützte sie sich wesentlich auf ein Teilgeständnis des u.a. wegen Körperverletzung vorbestraften Angeklagten Christian W. (22). Mit der extrem kurzfristigen Anklageerhebung reagierte die Staatsanwaltschaft offensichtlich auf die öffentliche Empörung über die massiven Polizeipannen unmittelbar nach dem Einsatz. „Die Anklage wurde völlig überhastet erhoben,“ kritisiert eine Sprecherin der Mobilen Opferberatung. „Schon bei Prozessbeginn zeichnete sich ab, dass die Ermittlungen von Polizei und Staatsanwaltschaft zum einen lückenhaft, zum anderen unvollständig waren und so die Anklage gegen drei von vier Angeklagten auf tönernen Füssen stand.“ Dies hatte u.a. zur Konsequenz, dass Ermittlungstätigkeiten in der Hauptverhandlung stattfinden mussten.

Erheblich erschwert wird die Hauptverhandlung zudem durch die Entscheidung des Vorsitzenden Richters Selig, die so genannte Mittäterschaft in der Anklage wegen gemeinschaftlicher Körperverletzung nicht zuzulassen. Mit dieser Entscheidung offenbart sich eine äußerst ungewöhnliche Rechtsauffassung des Vorsitzenden Richters . Während es gängige Rechtssprechung ist, dass bei einer Körperverletzung durch mehrere Täter einzelne Tathandlungen nicht jedem einzelnen Beschuldigten zugeordnet werden müssen, sondern eine jeweilige Zurechnung der jeweils einzelnen Tatbeiträge erfolgt, erwartet Richter Selig von Opfern, die von den Rechten zu Boden getreten wurden und dann schützend ihre Hände vors Gesicht hielten, dass sie einzelnen Angeklagten genaue Tathandlungen zuordnen können. Dies gelang bisher vor allem in Bezug auf den einschlägig vorbestraften Angeklagten Christian W., der laut Zeugenaussagen den Angriff mit Schlägen gegen mehrere Ensemblemitglieder begann.

Nachdem sich schnell abzeichnete, dass die Anklage der Staatsanwaltschaft Halberstadt gegen einige der Angeklagten auf äußerst wackeligen Füßen steht, haben die Vertreter der Staatsanwaltschaft seit Jahresbeginn ihre eigene Anklage in der Hauptverhandlung nicht mehr vertreten. Mit fatalen Folgen: So konnten polizeibekannte Rechte, die als Zeugen in der Hauptverhandlung über die Tatnacht und ihre Anwesenheit am Ort des Geschehens sowie ihre Kenntnisse über mögliche Täter befragt wurden, auf diese Fragen reihenweise Gedächtnis- und Erinnerungslücken angeben, ohne dass die Staatsanwaltschaft oder das Gericht dagegen einschritt.

Nun wälzt die Staatsanwaltschaft die Verantwortung für die mangelhaften Ermittlungen u.a. auf die Opfer des Angriffs ab, in dem sie ihnen vorwirft, sich nicht genau genug zu erinnern. Faktisch werden so die Betroffenen, deren VertreterInnen im Prozess alles versucht haben, um eine Aufklärung der Ereignisse voranzutreiben, für das drohende Scheitern der Anklage mitverantwortlich gemacht.

Zudem stellte sich zum Jahresanfang 2008 heraus, dass im Prozess keineswegs alle Ermittlungsergebnisse zum Sachverhalt vorliegen. Erinnert sei hier an die fehlende Akte, die die Staatsanwaltschaft zur Überraschung aller anderen Prozessbeteiligten plötzlich Anfang Januar überreichte. Für einige andere Ermittlungstätigkeiten der Staatsanwaltschaft und der Polizei, wie z.B. den Besuch einer Staatsanwältin in der Gaststätte „Spucknapf“ eine Woche nach dem Angriff, fehlen bis heute die Dokumentationen.

Die Nebenkläger und ihre VertreterInnen haben nach mehr als sechsmonatiger Hauptverhandlung den Eindruck gewonnen, dass dieser Prozess sich „immer weniger an rechtsstaatlichen Vorgaben orientiert,“ so eine Sprecherin der Mobilen Opferberatung.

Die rechte Szene Halberstadts befindet sich aufgrund des derzeitigen Prozessverlaufs erneut in der Offensive – wie zuletzt der Angriff auf der soziokulturelle Zentrum ZORA Ende Februar 2008 deutlich machte. Offensichtlich ist zudem, dass die Zeugen aus der rechten Szene die Angeklagten – bis auf Christian W. – noch immer als Kameraden ansehen. Das ist auch keineswegs weiter verwunderlich, wenn man sich beispielsweise den Bericht der Gerichtsmedizinerin über deren Tätöwierungen vor Augen hält. So wurden bei Christian W. u.a. zwei tätowierte Hakenkreuze und bei den Angeklagten David O. und Tobias L. jeweils ein Hakenkreuz festgestellt. „Rechte Gewalttäter zur Verantwortung zu ziehen, ist von entscheidender Bedeutung im Kampf gegen Rechts. Leider sehen wir in diesem Prozess ein Musterbeispiel dafür, wie Polizei- und Ermittlungsfehler eine Strafverfolgung kaum mehr möglich machen,“ sagt eine Sprecherin der Mobilen Opferberatung.