Anlaufstelle Nord (Salzwedel), 09.11.2006

Am 21. Oktober 2006 kurz vor Mitternacht überfiel eine mehr als 25-köpfige Gruppe von Neonazis gezielt eine private Geburtstagsfeier von ca. 20 alternativen Jugendlichen in Gerwisch, einer 3.000-Einwohnerkommune bei Magdeburg. Mit dabei waren einschlägig bekannte Neonazis u.a. aus Gerwisch.

ZeugInnen schilderten der Mobilen Opferberatung den Angriff als ein gleichzeitiges und abgestimmtes Vorgehen von mehreren Gruppen von Angreifern. Eine etwa 12-köpfige Gruppe von Rechten sei unter Skandieren von Parolen wie „Zick zack Zeckenpack“, „Sieg Heil“ und vereinzeltem Zeigen des Hitlergrußes durch die Tür in das Bürgerhaus eingedrungen und habe sofort damit begonnen, das Mobiliar umzustoßen und mit Bierflaschen zu werfen. Einige der Angreifer waren vermummt, hatten Schlaghandschuhe an und trugen bei Rechten populäre Bekleidungsmarken wie „Troublemaker“ und Buttons mit rechten Logos.

Nach Aussagen von ZeugInnen wurden „alle BesucherInnen, die den Nazis im Weg standen, umgestoßen und dann mit Tischen und Bierflaschen beworfen.“ Weitere Angreifer waren durch später geöffnete Fenster in die Räume eingedrungen und zusätzliche Rechte hatten das Gebäude und einige Nebenstraßen abgeschirmt und sich in kleineren Gruppen in Seitenstraßen verteilt. Einzelne flüchtende BesucherInnen der Feier wurden von Gruppen von bis zu acht Angreifern durch die Straßen gejagt.

Die Mobile Opferberatung geht nach den Schilderungen der Betroffenen von einer Angreiferzahl von insgesamt mindestens 25 bis hin zu 50 Angreifern aus, von denen nicht alle in das Bürgerhaus eindrangen, sondern einige sich in der Umgebung aufhielten. Der unmittelbare Angriff dauerte nach Einschätzung der Betroffenen etwa 10 Minuten.

Im Bürgerhaus versuchten die anwesenden Gäste der Geburtstagsfeier, zumeist Jugendliche aus der alternativen Szene, entweder zu entkommen oder beschwichtigend einzugreifen. Mehrere BesucherInnen wurden verletzt. Ein Jugendlicher wurde von einem umgeworfenen Tisch am Kopf getroffen, einem anderen Jugendlichen wurde durch einen Faustschlag ein Zahn ausgeschlagen. Eine Person erlitt eine Kopfplatzwunde durch einen Schlag mit einer Bierflasche. Weitere Gäste wurden geschlagen und erlitten Prellungen am Kopf und am Körper. Vom später eintreffenden Notarztwagen wurden mehrere Personen ambulant behandelt.

Polizei nimmt Drohung im Vorfeld nicht ernst

Noch ungesichert ist die Rolle eines sich zufällig vor Ort befindlichen Streifenwagens der Polizei; so konnte bislang nicht geklärt werden, ob und in welcher Form die darin befindlichen Beamten versucht haben, in das Geschehen einzugreifen.

Bereits am Vorabend des Angriffs hatten nach Auskunft von Betroffenen etwa 6-8 vermummte Neonazis gegen Mitternacht einen Treff alternativer Jugendlicher in Gerwisch aufgesucht, die Anwesenden bedroht und ihr Erscheinen auch für den kommenden Tag angekündigt. Die daraufhin von mehreren Personen alarmierte Polizei nahm diese Ankündigung offenbar nicht ernst und leugnete später tagelang, von den Drohungen überhaupt erfahren zu haben.

Betroffene kritisieren Verhalten von Polizisten

Viele der angegriffenen Jugendlichen und einige alarmierte und später hinzugekommene Eltern kritisieren den Umgang mehrerer Polizisten mit den Opfern des Angriffs. Jugendliche wurden wegen ihres Aussehens beleidigt. Einer Mutter wurde von einem Beamten vorgeworfen, sie habe ihr Kind „schlecht erzogen“.
Einer der geflüchteten Jugendlichen wollte im Bürgerhaus seine Sachen abholen, nachdem er unter Mühen dorthin wieder zurückgelangt war. Beim Betreten eines Raumes wurde er von einem Beamten mit einer Stabtaschenlampe in den Brustbereich gestoßen und weitere solcher Stöße angedroht.

Nach Auskunft mehrerer Betroffener und Eltern ist auf die Schocksituation der angegriffenen Jugendlichen von den meisten dort vor Ort anwesenden BeamtInnen in keiner Weise eingegangen worden. Des weiteren blieben die Fragen der Jugendlichen zur aktuellen Gefährdung durch rechte Angreifer auf den Wegen nach Hause unbeantwortet. Statt dessen wurden einzelnen Jugendlichen, die sich über die Vorgehensweise der Polizei beschwerten, Platzverweise erteilt. Nur wenige Polizeibeamte verhielten sich aufgeschlossen und begleiteten Jugendliche auf den Rückweg.

Neonazistische Organisierung im Jerichower Land

Zu den identifizierten Tatverdächtigen gehören eine Reihe von bekannten Neonazis der Kameradschaft „Weiße Aktivisten Jerichower Land“. Diese hatte im Jahr 2005 (und in den Jahren davor) regionale und überregionale Treffen, Konzerte und Grillabende mit bis zu 100 TeilnehmerInnen in einem von Rechten gemieteten Haus in Gerwisch abgehalten. Erst nach längerer Zeit kündigte die Kommune den neben dem Bürgerhaus gelegenen rechten Treffpunkt im Sommer dieses Jahres.

Der Mobilen Opferberatung liegen Hinweise vor, dass viele der Angreifer sich vorher in Grabow (Kreis Jerichower Land) auf einem von Rechten genutzten Privatgrundstück getroffen haben sollen. In Grabow waren schon am 30. September drei alternative Mädchen von einer Gruppe augenscheinlich rechter Angreifer beleidigt, mit Bier übergossen und anschließend geschubst und mit Steinen beworfen worden. Auch hier kam es zu einem Fehlverhalten der Polizei, die sich weigerte, eine Anzeige durch den Vater eines der betroffenen Mädchen aufzunehmen.

Der Angriff in Gerwisch ist der vorläufige Höhepunkt einer seit rund eineinhalb Jahren von der Mobilen Opferberatung beobachteten Entwicklung: Immer wieder wurden und werden alternative Jugendliche von organisierten Neonazis und deren Umfeld im Jerichower Land an ihren Treffpunkten angegriffen. So gingen dem Angriff auf das Bürgerhaus in Gerwisch allein in diesem Jahr mindestens vier rechte Angriffe auf alternative Jugendliche in Gerwisch voraus.

Rechte Angriffe gab es u.a. auch am Bahnhof Möser im März und Oktober 2005 sowie im April 2006 und in Burg im März und Mai 2005 und im Mai diesen Jahres. Im Sommer 2006 schüchterten Neonazis aus dem Jerichower Land über mehrere Monate die TeilnehmerInnen der Montagsdemonstrationen in Haldensleben ein.

„Die bisherige Straflosigkeit nach derartigen Angriffen hat die Neonazis ganz augenscheinlich zu weiteren Gewalttaten ermutigt“, fasst Ralf Perbandt von der Mobilen Opferberatung das jahrelange Herunterspielen der rechten Aktivitäten durch Polizei, Justiz und Kommunen im Kreis Jerichower Land zusammen.

Da ist es denn auch nicht weiter verwunderlich, dass die Neonazis inzwischen auch Polizisten direkt angreifen: Knapp zwei Wochen nach dem Überfall auf die Party der alternativen Jugendlichen wurden in der Nacht vom 4. zum 5.11.2006 einem Polizeibeamten die Nase gebrochen, als er gemeinsam mit einem Kollegen drei 17- bis 19jährige Neonazis auf der Straße wegen einer eingeworfenen Scheibe kontrollieren wollte.

Verschweigen und Verharmlosen

Zunächst verschwieg das Polizeirevier Burg den Angriff gänzlich, danach wurde der rechte Tathintergrund geleugnet. Erst als sich die Betroffenen über die Mobile Opferberatung an JournalistInnen wandten, erfuhr die Öffentlichkeit von den Ereignissen in Gerwisch. Daraufhin unterstellte das Polizeirevier in Burg den Jugendlichen und ihren Eltern in der Regionalzeitung „Volksstimme“ über Tage, sie würden übertreiben und nicht die Wahrheit erzählen. Erst aufgrund weiteren Drucks durch die Betroffenen und überregionaler Medien sah sich das Innenministerium gezwungen, eine halbwegs den Tatsachen entsprechende Darstellung der Ereignisse zu veröffentlichen und die gesamte Öffentlichkeitsarbeit der Polizei zum Angriff in Gerwisch wurde später vom Innenminister des Landes Sachsen-Anhalt als „verheerend“ beschrieben.

Die Betroffenen und die Mobile Opferberatung erwarten jetzt eine umfassende Untersuchung sowohl zu den Umständen des Angriffs als auch zum Verhalten des Polizeireviers Burg.