Anlaufstelle Mitte (Magdeburg), 08.08.2006

Zweiter Verhandlungstag gegen Peter Karich vor dem Amtsgericht Halberstadt, 11. September 2006, ab 8.15 Uhr, Strafkammersaal, Richard-Wagner-Str. 52:

Am 4. September 2006 begann vor dem Jugendschöffengericht des Amtsgerichts Halberstadt das Verfahren gegen den heute 33-jährigen Neonazi Peter Karich wegen eines Angriffs am 16. August 2003 auf einen damals 32-jährigen Passanten. Die Staatsanwaltschaft Halberstadt wirft dem einschlägig vorbestraften Karich gemeinschaftliche gefährliche Körperverletzung vor.

In der Nacht vom 15. zum 16. August 2003 hatte eine Gruppe von etwa einem Dutzend Rechter in Halberstadt zunächst erfolglos versucht, das alternative Wohnprojekt „VEB Wohnfabrik“ anzugreifen. Anschließend griff die Gruppe mit den Worten „Wo willst du hin, du schwule Sau!“ einen Passanten an. Gegen drei Uhr morgens überfiel die mittlerweile etwa 15- bis 20-köpfige Gruppe das soziokulturelle Zentrum Zora e.V. und verletzte einen 21-jährigen Konzertbesucher durch heftige Tritte gegen seinen Kopf lebensgefährlich.
Sebastian V. erlitt u.a. mehrere tiefe Risswunden an Schädeldecke und Oberkiefer, starke Anschwellungen an beiden Augen, einen Nasenbeinbruch, beidseitige Jochbeinbrüche, ein Schädelhirntrauma und Prellungen im Brustbereich. Nur durch glückliche Umstände erblindete er nicht. Der 21Jährige musste acht Tage stationär im Krankenhaus behandelt werden.
Eine Augenzeugin identifizierte in der Folge Peter Karich, Sänger der überregional bekannten Neonaziband „Skinheads Sachsen-Anhalt (SSA)“, zweifelsfrei als einen der Angreifer auf den 21-Jährigen.

Im Zuge der Ermittlungen durchsuchten Polizei und Staatsanwaltschaft Anfang September 2003 mehrere Wohnungen und den Proberaum von Mitgliedern der SSA. Dabei wurden u.a., Hitlerbüsten, mehrere Hakenkreuz- und SS-Fahnen, rechte Fanzines wie der „Fahnenträger“ aus Ostvorpommern und „Feuer und Sturm“ aus Sachsen sowie mehrere SSA-CDs mit dem programmatischen Titeln „Der Kampf hat begonnen“ und „Niemals geben wir auf“ beschlagnahmt. Beide Tonträger der SSA wurden Ende 2003 indiziert.

Lediglich sechs Tatverdächtige wurden in der Folge von der Staatsanwaltschaft angeklagt. Vier von ihnen wurden am 6. April 2004 vom Amtsgericht Halberstadt verurteilt; zwei zu Freiheitsstrafen zwischen 12 und 18 Monaten; zwei zu Bewährungsstrafen. In der Berufungsinstanz beim Landgericht Magdeburg wurden Ende März 2006 auch die Freiheitsstrafen zu Bewährungsstrafen umgewandelt. Die Rechten hatten im Prozess freimütig gestanden, die Zora aus Hass gegen „Kiffer, Autonome und Linke“ mit Flaschen, Dachlatten und Steinen angegriffen zu haben. Schon am ersten Prozesstag wurde das Verfahren gegen Peter Karich abgetrennt: Dazu erklärte die Staatsanwaltschaft Halberstadt, den Prozess gegen ihn spätestens im Sommer 2004 zu beginnen. Stattdessen stellte die Staatsanwaltschaft Halberstadt das Verfahren gegen Peter Karich wegen des lebensgefährlichen Angriffs auf den 21-jährigen Zora-Besucher im März 2005 nach § 154 II Strafprozessordnung (StPO) schlichtweg ein. Der §154 StPO sieht eine Einstellung bei „unwesentlichen Nebenstraftaten“ nur dann vor, wenn die einzelnen Handlungen keine einheitliche Tat bilden und die einzustellende Tat neben der verbleibenden nicht erheblich ins Gewicht fällt.

Peter Karich war laut Zeugenaussagen von Beginn bis zum Ende des Angriffzuges dabei. „Eine sinnvolle strafrechtliche Beurteilung des Verhaltens des Angeklagten ist nur bei Berücksichtigung des gesamten Tatabends möglich.“, so Christina Clemm, Nebenklagevertreterin von Sebastian Vogler. „Indem ein gezielter rechtsextremer Angriffszug von Staatsanwaltschaft und Amtsgericht als nicht zusammenhängend bewertet und Teile davon eingestellt werden, wird rechte Gewalt nicht nur verharmlost, sondern auch das Interesse eines Opfers und deren Angehörigen von den Strafverfolgern ignoriert“, kritisiert eine Sprecherin der Mobilen Opferberatung. Derzeit ist deshalb eine Beschwerde vor dem Bundesverfassungsgericht anhängig.

Lediglich die Anklage wegen des Angriffs auf den Passanten kurz vor dem Zora-Überfall wurde aufrecht erhalten. Auch das Verfahren wegen Verwendung verfassungsfeindlicher Kennzeichen wurde in der Folge von der Staatsanwaltschaft Halberstadt nach § 154 StPO eingestellt. Wegen dieses Angriffs muss sich Peter Karich nun seit dem 4. September 2006 vor dem Jugendschöffengericht des Amtsgerichts Halberstadt verantworten – mehr als drei Jahre nach der Tat. Am ersten Verhandlungstag machte der Angeklagte erneut von seinem Recht auf Aussageverweigerung Gebrauch. Fünf der sechs gehörten Zeugen sind u.a. wegen einer Beteiligung an dem Angriff auf die Zora bereits rechtskräftig wegen Landfriedensbruchs verurteilt, konnten sich aber angeblich alle nicht oder kaum an die Vorkommnisse in der Tatnacht erinnern, sodass ihnen Vorhalte aus ihren vorangegangenen Aussagen gemacht werden mussten. Für kommenden Montag sind zwei weitere Zeugen geladen, darunter auch der durch Faustschläge, Tritte und einen Schlag mit einer Bierflasche verletzte Passant. Es ist mit den Pläydoyers und der Urteilsverkündung zu rechnen.

Zweiter Verhandlungstag gegen Martin K., Alexander M. und Karsten F. vor dem Amtsgericht Wernigerode, 11. September 2006, ab 13.00 Uhr, Saal 106, Rudolf-Breitscheid-Str. 8

Am 6. September 2006 begann vor dem Jugendschöffengericht des Amtsgerichts Wernigerode der Prozess gegen acht Rechte, denen u.a. schwerer Landfriedensbruch vorgeworfen wurde, der bereits mehr als drei Jahre zurückliegt:

Am 5. August 2003 überfiel eine Gruppe von etwa 15 bis 20 Rechten gegen 0.50 Uhr vor der Sparkasse am Platz des Friedens in Wernigerode eine ca. achtköpfige Gruppe von Punks und nichtrechten Jugendlichen. Zeugen berichteten, dass ein vollbesetztes Auto im Laufe des Abends mehrmals an dem bekannten Treffpunkt der alternativen Jugendlichen vorbeigefahren sei, um sich bezüglich der Stärke der Gruppe zu vergewissern. Nachdem einige der Jugendlichen bereits nach Hause gegangen waren, erfolgte der geplante Angriff.

Einige der augenscheinlich Rechten waren mit Baseballschlägern und Ketten bewaffnet; einer führt einen Kampfhund mit. Ein damals 19-jähriger Punk konnte nicht schnell genug fliehen; er wird von einem Neonazis zu Boden gerissen und mit Fäusten geschlagen. Dann traten mindestens vier Rechte mit Springerstiefeln auf ihn ein. Eine Freundin des Betroffenen warf sich schließlich über den mittlerweile bewusstlosen Punk, um ihn mit ihrem Körper vor weiteren Tritten zu schützen. In der Folge erhielt der 19-Jährige noch einen gezielten Schlag mit einem Holzknüppel gegen seinen unbedeckten Hinterkopf. Der Betroffene wurde so massiv am Kopf und am Oberkörper verletzt, dass er mit der Notfallambulanz ins Krankenhaus gebracht werden musste.

Die Polizei beendete ihre Ermittlungen hierzu bereits im Oktober 2003; einer der Tatverdächtigen war teilweise geständig, die anderen Verdächtigen schwiegen zu den Vorwürfen. Die Staatsanwaltschaft Halberstadt stellte das Verfahren aus nicht nachvollziehbaren Gründen im November 2003 ein – ohne den Hauptbetroffenen davon zu informieren. Im Juli 2004 legte der inzwischen von dem Betroffenen bevollmächtige Nebenklagevertreter, der erst nach Akteneinsicht von der Einstellung erfahren hatte, Beschwerde dagegen ein. Anfang 2005 begann in Wernigerode die sogenannte Wernigeröder Aktionsfront (WAF), eine Kameradschaft militanter Neonazis, ihre Aktivitäten; einer der Anführer ist einer der Hauptverdächtigen des Angriffs aus dem Sommer 2003. Im Frühjahr und Sommer 2005 begingen Aktivisten der Wernigeröder Aktionsfront und andere Rechte eine Serie von mindestens einem Dutzend Angriffe auf Punks in Wernigerode. Mit dabei sind erneut Rechte, die als Tatverdächtige für den Angriff im Sommer 2003 gelten. Im Januar 2006 erhebt die Staatsanwaltschaft Halberstadt Anklage wegen Landfriedensbruchs und gefährlicher Körperverletzung gegen acht Rechte aus Wernigerode, Thale und Blankenburg wegen des Angriffs im August 2003. Am vergangenen Mittwoch begann schließlich der Prozess vor dem Jugendschöffengericht des Amtsgerichts Wernigerode.

Warum das Verfahren anfänglich trotz hinreichendem Tatverdacht gegen mindestens vier Beschuldigte eingestellt und erst mehr als drei Jahre nach dem schweren Angriff die Hauptverhandlung eröffnet wurde, bleibt unverständlich. „Die Ermittlungen wurden nur unvollständig geführt. Insbesondere wurden den Zeugen zunächst wichtige Lichtbilder von tatverdächtigen Personen nicht vorgelegt. Außerdem verblasst die Erinnerungsfähigkeit der Zeugen selbstverständlich dann, wenn die Tat erst Jahre später verhandelt wird“, kritisiert Rechtsanwalt Benjamin Raabe, Nebenklagevertreter des Hauptbetroffenen.

Bis auf einen der Angeklagten, der eine Tatbeteiligung bestritt, äußerten sich alle anderen zu den Vorwürfen nicht. Nach der Vernehmung von insgesamt sechs ZeugInnen trennte das Amtsgericht Wernigerode das Verfahren gegen die zur Tatzeit 19-jährigen, einschlägig vorbestraften Angeklagten Martin K. und Karsten F. sowie den zur Tatzeit 21-jährigen Alexander M. zur gesonderten Verhandlung ab. Die verbleibenden fünf weiteren Angeklagten wurden auf Antrag der Staatsanwaltschaft Halberstadt freigesprochen, da ihnen eine Tatbeteiligung nicht nachzuweisen sei. Der Prozess gegen die drei Angeklagten wird am kommenden Montag, dem 11. September 2006, ab 13.00 Uhr fortgesetzt. Hierfür sind sechs weitere Zeugen geladen und auch Plädoyers und Urteilsverkündung angesetzt.

„Die Tatsache, dass in beiden Fällen mehr als drei Jahre bis zum Beginn der Hauptverhandlung gegen die mutmaßlichen Täter liegen, hat eine fatale Signalwirkung,“ kritisiert eine Sprecherin der Mobilen Opferberatung. Während die Betroffenen der Angriffe das Vertrauen in die Justiz verlören, würde organisierten Neonazis und deren Umfeld der Eindruck vermittelt, dass sie ungehindert so weitermachen können wie bisher. „Schleppende und oberflächliche Ermittlungen, unzureichende Strafverfolgung und Verharmlosung rechter Gewalt haben dazu beigetragen, dass sich die Harzregion in den letzten Jahren zu einem Schwerpunkt rechter Gewalttaten und neonazistischer Organisierung entwickelt hat – mit militanten Kameradschaftsstrukturen, einem der aktivsten NPD-Kreisverbände und einem der aktivsten JN-Stützpunkte in Sachsen-Anhalt.“