Anlaufstelle Süd (Halle), 26.08.2013

Mobile Opferberatung kritisiert lange Untätigkeit der Justiz

Am kommenden Mittwoch, den 28. August 2013, 9:00 Uhr beginnt am Amtsgericht Merseburg (Jugendschöffengericht) der Prozess gegen fünf zur Tatzeit zwischen 19 und 25 jährige Männer, denen die Staatsanwaltschaft Halle gefährliche Körperverletzung vorwirft.  Bei dem bewaffneten Angriff von etwa zwei Dutzend Neonazis auf feiernde Jugendliche und junge Erwachsene an der Papiermühle Ende April 2010 in Merseburg waren sechs Alternative, darunter drei Frauen, z.T. erheblich verletzt worden. So musste ein 22-Jähriger mit massiven Kopfverletzungen stationär behandelt werden. Einem 26-Jährigen wurde u.a. ein Zahn ausgeschlagen. Die Betroffenen erlitten zudem Hämatome, Schürfwunden und Prellungen, die psychischen Folgen der Tat dauern bis heute an.

Die Ermittlungen wurden vom Staatsschutz der Landeskriminalpolizei und der Polizeidirektion Sachsen-Anhalt Süd übernommen, die ihre Arbeit Ende November 2010 nach umfangreichen Ermittlungen abschlossen. Dann passiert mehr als ein Jahr nichts. Erst nach  Drängen der Nebenklagevertreter_innen erhob die Staatsanwaltschaft Halle im März 2012 Anklage. Das Amtsgericht Merseburg ließ weitere zehn Monate verstreichen, bis es im Januar 2013 Prozesstermine für Anfang April 2013 anberaumte. Zwei Wochen vor dem geplanten Beginn hob es die Termine jedoch ohne Angabe von Gründen ersatzlos auf.

Die Neuterminierung des Prozesses erfolgte erst nach einer Verzögerungsrüge der Nebenklagevertreter_innen. „Die lange Untätigkeit von Staatsanwaltschaft und Gericht ist äußerst fragwürdig und auch deshalb skandalös, weil dadurch die Beweisaufnahme vor Gericht erheblich erschwert wird“, kritisiert eine Sprecherin der Mobilen Opferberatung. Denn erfahrungsgemäß dürfte es fast dreieinhalb Jahre nach der Tat für die Zeug_innen schwer werden, sich noch an Details zu den Angreifern zu erinnern. „Dabei hätte bereits der Erziehungsgrundsatz im Jugendstrafrecht eine beschleunigte Bearbeitung erfordert“, so die Sprecherin weiter. Zum Prozessauftakt sind drei Betroffene sowie sechs weitere Zeug_innen geladen. Als Fortsetzungstermine sind bisher der 18.09., 9.10., 23.10., 13.11., 3.12. sowie der 11.12.2013, jeweils ab 9:00 Uhr vorgesehen.

Zum Hintergrund

Kurz nach Mitternacht des 25. April 2010 stürmten etwa 20, u.a. mit Baseballschlägern und Eisenstangen bewaffnete Neonazis unter „Scheiß Zecken“ und „Merseburg bleibt national“-Rufen gezielt auf eine Gruppe alternativer Jugendlicher und junger Erwachsener los, die gerade auf dem Geländer der Alten Papiermühle am Lagerfeuer feierten. Die Alternativen versuchten zu flüchten, wurden aber eingeholt und mit Gewalt zu Boden gebracht, wo die Angreifer z.T. gezielt auf die Köpfe einiger Betroffener eintraten.

Da das Gelände nur über einen Zugang erreichbar und von Wasser umgeben ist, blieb den Flüchtenden nur, sich Schutz in Büschen oder auf dem Erdboden zu suchen. Ein Betroffener, der u.a. mit einem Schlagwerkzeug verletzt wurde, floh in einen Seitenarm der Saale. Durch das Wasser watend rettet er sich ans andere Ufer. Währenddessen versuchen einige der Angreifer, weitere Alternative durch Steinwürfe in die Dunkelheit aufzuspüren, während diese hoffen, dass die Polizei bald eintrifft. Bevor sich die Neonazis nach dem Kommando „Alle sammeln!“ zurückziehen drohen sie noch damit wiederzukommen. Als Beamte am Tatort eintreffen, sind alle Angreifer geflüchtet.

Zwei Tage nach dem Angriff solidarisierten sich etwa 200 Menschen, darunter viele alternative Jugendliche aus der Region, auf einer Demonstration mit den Betroffenen und machten auf vorangegangene Neonaziangriffe sowie das Fehlen eines Treffpunkts und Schutzraums für alternative Jugendliche und junge Erwachsene in Merseburg aufmerksam. Kurz darauf verurteilte auch der Merseburger Stadtrat den Angriff scharf, kündigte eine konsequente Auseinandersetzung mit Neonazis und die Entwicklung von Handlungsstrategien an.

Zeitgleich gründeten Betroffene und ihr soziales Umfeld die „Initiative Alternatives Merseburg“, die sich seitdem für den Erhalt eines selbstorganisierten Zentrums, für selbstbestimmte Freiräume und gegen neonazistische Aktivitäten engagiert, wie beispielsweise bei den Protesten gegen die Neonaziaufmärsche im Juni 2011 und 2013 in Merseburg. Die Anfang 2013 begonnenen Gespräche mit der Stadt Merseburg zu einem konkreten, geeigneten Objekt, dauern weiter an.

Achtung Bildberichterstatter_innen:
Wir bitten im Namen der Betroffenen darum, auf Film- bzw. Bildaufnahmen von ihnen zu verzichten. Für Interviews stehen Ihnen nach Möglichkeit die Nebenklägervertreter_innen zweier Betroffener sowie die Mobile Opferberatung zur Verfügung.