Am morgigen Freitag, den 26. November 2021, endet – nach zehn Verhandlungstagen – der Prozess gegen einen zur Tatzeit 17-Jährigen wegen versuchten Totschlags in Tateinheit mit gefährlicher Körperverletzung am Landgericht Halle. Ab 10:30 Uhr wird die Vorsitzende Richterin der Jugendkammer, Sabine Staron in nichtöffentlicher Verhandlung das Urteil verkünden.
Erst diese Woche hatte das Gericht – auf Antrag der Nebenklagevertretung des schwerverletzten Betroffenen – einen rechtlichen Hinweis erteilt, dass für den heute 19-jährigen Angeklagten auch eine Verurteilung wegen versuchten Mordes aus sog. niedrigen Beweggründen in Betracht kommt. „Wir hoffen, dass das Gericht die rassistische Motivation für die Tat mindestens strafschärfend berücksichtigen wird“, so eine Sprecherin der Mobilen Opferberatung. „Die Erfahrungen der vergangenen Jahre zeigen jedoch, dass sich Gerichte weiterhin sehr schwer damit tun, Rassismus klar als Hauptmotiv zu benennen, wenn sie die Täter nicht zweifelsfrei der rechten Szene zuordnen können“, so die Sprecherin weiter.
Lebensbedrohlicher Angriff mit anhaltenden Folgen
Sechseinhalb Monate nach dem rechtsterroristischen Anschlag in Halle wurden am 1. Mai 2020 ein damals 21-jähriger Schüler mit palästinensisch-syrischem Hintergrund und sein gleichaltriger syrischer Freund bei einem nächtlichen Angriff eines Trios an der Haltestelle Rennbahnkreuz in Halle (Saale) rassistisch und homofeindlich beschimpft und massiv körperlich attackiert. Während der Freund so geschubst wurde, dass er zu Boden stürzte und sein Knie blutete, wurde auch der Schüler zu Boden getreten. Sein Kopf wurde mehrfach gegen den Bus geschlagen. Auch, als er bereits bewusslos war, wurde er noch mehrfach wuchtig ins Gesicht getreten. Durch die stumpfe Gewalteinwirkung erlitt er lebensbedrohliche Kopfverletzungen, u.a. eine Augenhöhlenbodenfraktur beidseits, eine mehrfache Nasenbeinfraktur sowie mehrere Zahnabbrüche. Er wurde zwei Mal am Kopf operiert, lag drei Wochen im Krankenhaus und musste danach drei weitere Wochen zur Reha.
Am ersten Prozesstag beschrieb der heute 22-jährige Schüler vor Gericht eindrücklich auch die langanhaltenden Folgen: Bis heute ist sein Sehvermögen auf beiden Augen eingeschränkt, seine linke Gesichtshälfte fühlt sich noch immer taub an oder zuckt. Vor der Tat war er – der 2015 aus Syrien geflüchtet war und vorher kein Deutsch sprach – einer der Klassenbesten. Danach hatte er Konzentrationsprobleme, fühlte sich überfordert, hatte keine Kraft und keinen Antrieb, zur Schule zu gehen, mehr als ein Jahr lang. Er spricht auch davon, seitdem beim Anblick von blonden jungen Männern verunsichert zu sein und Situationen mit ihnen aus dem Weg zu gehen. Noch heute geht er wöchentlich zur psychologischen Behandlung.
Betroffene können wegen Abtrennung des Verfahrens nicht abschließen
Weil das Landgericht nach dem zweiten Prozesstag das wegen gefährlicher Körperverletzung geführte Verfahren gegen die beiden zur Tatzeit heranwachsenden bzw. erwachsenen Mitangeklagten überraschend abgetrennt hatte, ist die Verhandlung nach Jugendstrafrecht nicht mehr öffentlich. Vor allem aber steht den Betroffenen nun eine erneute Aussage in einem weiteren Verfahren bevor: „Für beide Betroffenen, die mehr als eineinhalb Jahre auf den Beginn des Prozesses gewartet haben und für die ihre Aussage vor Gericht mit enormen psychischen Belastungen verbunden war, ist die Abtrennung des Verfahrens absolut fatal“, so eine Sprecherin der Mobilen Opferberatung. „Statt endlich mit dem Erlebten abschließen und nach vorne blicken zu können werden sie die grauenhaften Ereignisse der Tatnacht und ihre Folgen nun nochmals vor Gericht schildern oder sich von den Verteidigern der Angeklagten erneut befragen lassen müssen.“ Wann mit dem Beginn der erneuten Verhandlung gegen die beiden weiteren Angreifer zu rechnen ist, ist zudem noch völlig unklar.
Die Entscheidung, das Verfahren gegen die zur Tatzeit 19- und 22-jährigen Angeklagten abzutrennen und die Hauptverhandlung gegen sie auszusetzen hatte das Gericht mit den wegen Corona nötigen, regelmäßigen Sitzungspausen sowie ihrer „angespannten Terminlage“ begründet. So sei es dem – wegen einer anderen Sache in U-Haft genommenen – heute 19-jährigen Angeklagten „vor dem Hintergrund des Beschleunigungsgrundsatzes in Haft- und Jugendsachen […] nicht zumutbar, das Verfahren gegen ihn weit in das Jahr 2022 zu betreiben.“1
Ausblendung der rassistischen Tatmotivation durch Strafverfolgungsbehörden
Wie schon die Polizei, welche die Tat in einer Pressemitteilung lediglich als „tätliche Auseinandersetzung“ zwischen Jugendgruppen darstellte und verharmloste, ignorierte auch die Staatsanwaltschaft Halle zahlreiche konkrete Anhaltspunkte für ein rassistisches Motiv. So sucht man die rassistischen und homofeindlichen Beleidigungen gegen die beiden Betroffenen in der Anklage aus November 2020 vergeblich. Dementsprechend kontextlos wurde der Prozess auch vom Landgericht in einer Pressemitteilung angekündigt. Auch im Bericht des MDR zum Prozessauftakt erfuhr die Öffentlichkeit nichts zu den Hintergründen der Tat. Lediglich die Mitteldeutsche Zeitung fragte in einem Artikel, ob „Ausländerfeindlichkeit“ Grund für die schwere Attacke gewesen sein könne.2
Bereits Mitte April 2021 hatte die Mobile Opferberatung zudem kritisiert, dass das versuchte Tötungsdelikt auch nicht in der öffentlichen Statistik des Innenministeriums zu politisch rechts motivierter Gewalt in Sachsen-Anhalt 2020 zu finden ist.3 Davon, dass das Landeskriminalamt die Tat erst nach Statistikschluss schließlich doch noch als politisch rechts motiviert einstufte und nachträglich auch statistisch erfasste, erfuhr die Öffentlichkeit nichts.
Kritik an Desinteresse und Untätigkeit der Staatsanwaltschaft Halle
Zudem hatten auch zahlreiche Versäumnisse bei Polizei und Staatsanwaltschaft Unverständnis und Wut bei den Betroffenen ausgelöst und ihr Vertrauen in die Arbeit der Ermittlungsbehörden zutiefst erschüttert. So hatte der am Tatabend zuständige Staatsanwalt sowohl die Vorführung von einem der Beschuldigter vor dem Haftrichter als auch Hausdurchsuchungen bei den bereits drei namentlich bekannten Beschuldigten abgelehnt. Auch eine erkennungsdienstliche Behandlung der Beschuldigten, die Vernehmung weiterer Tatzeug*innen oder DNA-Abgleiche unterblieben.
Im Juni 2020 ging schließlich die gesamte Ermittlungsakte bei der Staatsanwaltschaft Halle verloren und wurde erst sechs Wochen später – nach Intervention der Nebenklage – von der Polizei rekonstruiert.4 Schließlich war es das Landgericht Halle, welches nach Anklageerhebung die Polizei veranlassen musste, versäumte Ermittlungen nachzuholen.
Bei Rückfragen können Sie sich unter 0175/ 1 62 27 12 an uns wenden. Für eine Kommentierung des Urteils ist die Nebenklagevertreterin des Hauptbetroffenen, Rechtsanwältin Franziska Nedelmann, am 26.11.21 zwischen voraussichtlich 11:30 Uhr bis 12:30 Uhr ebenfalls unter der Telefonnummer der Mobilen Opferberatung erreichbar.
1 Vgl. Mitteilung der Pressestelle des Landgerichts Halle vom 10.11.2021
2 Vgl. https://www.mz.de/lokal/halle-saale/wurde-ein-syrer-in-halle-neustadt-wegen-auslanderfeindlichkeit-von-drei-mannern-schwer-attackiert-3272115
3 Vgl. https://www.mobile-opferberatung.de/jahresbilanz-der-mobilen-opferberatung-2020/
4 Vgl. Antwort der Landesregierung auf eine Kleine Anfrage der LINKEN vom 27.10.2020 (Drucksache 7/6763)
weiterführende Lesetipps:
Rassismus in Halle: „Nicht täglich, aber immer!“ (DW, 20.12.2020)